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Radio & Rotation

In der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung (Samstag, 27. November 2004) äußerte sich Radio Eins Musikchef Peter Radszuhn über den Alltag eines Musikredakteurs.


Herr Radszuhn, der verstorbene englische Diskjockey John Peel hat einmal über seinen Job gesagt: „Man bekommt viele Schallplatten umsonst und wird auch noch dafür bezahlt, dass man sie im Radio spielt. Das hört sich perfekt an.“

Stimmt.

Wie viele Platten landen in der Woche in Ihrem Postfach?

Ich habe eine Kiste im Büro und abends ist die meistens voll. Am Tag kommen dreißig bis vierzig Singles rein und um die dreißig Longplays. Wir haben einen so genannten Bemusterungsvertrag mit der Industrie. Die großen Firmen schicken uns ihre Neuerscheinungen in der Regel online. Das geht gleich in den Rechner. Das Problem ist, dass viele Sachen völlig unnötig hier ankommen. Comedy, Schlager, Volksmusik finden bei Radio Eins nicht statt.

Sie schmeißen eine Menge weg.

Sagen wir mal so, Montag und Dienstag sind meine Abhörabende. Hören heißt durchzappen. Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik. Wenn ich merke, das wird nichts, fliegt die CD raus. Am Ende habe ich drei Stapel. 1. Super, 2. muss ich genauer hören, 3. Scheiße. Ich klebe überall kleine Zettelchen dran, merke mir Songs und Stimmungen.

Haben Sie sich schon mal getäuscht?

Klar, bei Lenny Kravitz‘ „Five“ zum Beispiel habe ich gedacht, dass ist jetzt echt vorbei. Da kommt nichts mehr. Dann wurde das seine erfolgreichste Platte, die auch für unser Programm sehr wichtig war.

Wer bestimmt, was bei Radio Eins gespielt wird?

In der Musikredaktion arbeiten drei Mitarbeiter fürs Tagesmusikprogramm. Die sitzen auf der Galeere, rudern kräftig und machen jeden Tag aufs Neue die Programme von 5 Uhr morgens bis 21 Uhr.

Wie funktioniert das, sie starten den den Computer oder was?

Der Computer spielt nur, was wir wollen. Er macht Vorschläge. Unser Computerprogramm Selector wird weltweit von zirka 5 000 Radiostationen genutzt. Das ist nichts besonderes. Es kommt darauf an, wie man es füttert. Bei uns darf sich ein Titel frühestens nach sechs Stunden wiederholen. Der Computer muss mich automatisch davor schützen, dass ein Titel zur selben Stunde am nächsten Tag wiederkommt. Ich kann auch drei Tage Lücke programmieren. So etwas organisiert die Software. Im Schnitt spielen wir zehn Songs in einer Stunde und man kann sagen, keine Stunde bleibt von Handarbeit unberührt.

Was regeln Sie denn nach?

Das ist Gefühlssache. Nicht Tom Jones jetzt, um diese Uhrzeit. Oft werden Titel innerhalb der Stunde getauscht. Nach Alanis Morisette und Christina Aguilera will ich nicht Gwen Stefani hören, da gehört ein Kerl dazwischen. Oder ein anderes Beispiel, zurzeit haben wir die Fantastischen Vier mit „Sommerregen“ auf der Playlist. Schöner Titel, leider zur falschen Jahreszeit. Die Kollegen sagen, ich nehme an dieser Position lieber etwas anderes, bleibe aber im Sound, leicht groovend.

Mein Gefühl sagt mir, dass ich in den letzten Wochen „Leaving New York“ von R.E.M. etwas zu oft gehört habe.

Moment, lassen Sie mich nachsehen, bei uns lief das Stück seit Freitag, den 20. August, 92 mal.

Da haben wir’s.

Das ist doch gar nichts, wenn Sie bedenken, dass bei der Konkurrenz Anastacia mit ihrer neuen Single „Welcome To My Truth“ in nur einer einzigen Woche 67 mal läuft.

Und bei Ihnen?

Überhaupt nicht, weil wir diese Nummer blöd finden.

Es passiert schnell, dass einem ein Song auf die Nerven geht.

Man kriegt jeden Song totgedudelt, egal wie gut er ist. Wenn man Pech hat, erwischt man einen Titel sehr häufig. Immer wenn ich einschalte, läuft Depeche Mode. Könnte ich drauf wetten. Ich denke, läuft denn hier nur Depeche Mode? Das kann doch nicht sein.

Wie viele Titel haben sie insgesamt im Programm?

Alles in allem sind 12 000 Titel abrufbar, davon haben wir aktuell jeweils 5 000 für die Tagesprogramme freigeschaltet.

Aus denen wählt der Computer aus?

Richtig. In jeder Woche kommen rund 15 Titel neu in den Umlauf. Genau so viele fallen raus.

Lassen Sie uns über diese ominöse Rotation reden, die schließlich den Charakter eines Programms bestimmt. Wie wird bei Ihnen rotiert?

Die Rotation gibt vor, wie oft ein Titel im Programm auftaucht. Wir haben bei Radio Eins drei Stufen. Die A-Rotation bedeutet maximal zwölf Einsätze in der Woche, normal sind zwei am Tag, auch mal drei. In die A-Rotation kommt alles, was neu und wichtig ist. In die Kategorie B und C fallen etablierte Hits, die wir nicht mehr so oft spielen wollen, weil sie auch bei anderen Sendern zu hören sind. Die laufen bis zu sechs mal in der Woche. Und dann gibt es bei uns noch die Playlist D mit drei Einsätzen pro Woche. Das sind Imagesachen wie etwa die neue Single von Björk. Die ist sehr speziell, aber wir glauben, dass wir unseren Hören auch Björk anbieten müssen. Wir gehörten übrigens zu den ersten in Deutschland, die die Strokes oder White Stripes gespielt haben. So was fängt oft klein an.

Wer stellt die Playlists zusammen?

Einmal in der Woche treffen wir uns zu einer Abhörsitzung. Fünf Kollegen nehmen teil und jeder bringt mit, was er für programmrelevant hält. Das dauert meistens drei Stunden, dann lässt die Konzentration nach. Manchmal sind wir uns schnell einig, aber es gibt auch harte Auseinandersetzungen.

Sagen Sie mal.

Beliebt ist der Streit zwischen den Fraktionen Rock und Groove. Als ich letztens Elton John durchsetzen wollte, hatte ich plötzlich beide Seiten gegen mich.

Und, haben Sie Ihn durchgesetzt?

Ja, denn seine neue Platte ist toll. Wir spielen ja nicht „Nikita“.

Gibt es bei Radio Eins eine schwarze Liste, wo möglicherweise der Name Phil Collins ganz oben steht?

So kann man das nicht sagen. Auch ein Phil Collins taucht gelegentlich in diesem Programm auf. Wir platzieren dann „I wish it would rain“, was eigentlich gar keine so schlechte Nummer ist. Das Problem mit Phil Collins ist, dass er sich ständig wiederholt und wiederholt, wie so viele andere aus den 80er Jahren. Nehmen Sie Tina Turner, Rod Stewart, Joe Cocker. Wir müssen überlegen, was zu Radio Eins passt. Es kommt auf den Kontext an. Wenn sie nur Rod Stewart rausziehen, beispielsweise mit „Maggie Mae“ und im Programm The Libertines und 2Raumwohnung daneben setzen, dann wirkt das schon ganz anders.

Es gibt keine Tabus?

Für uns ist Michael Jackson tabu. Bevor die Missbrauchsvorwürfe gegen ihn nicht geklärt sind, spielen wir ihn nicht mehr.

Der Sänger von Noir Dæsir, der seine Frau Marie Trintignant erschlagen hat?

Spielen wir auch nicht.

Wie groß ist bei Radio Eins der Anteil alter Musik, so Richtung Led Zeppelin, Rolling Stones, Eric Clapton?

Das Programm ist nach Epochen geschichtet. 60er, 70er, 80er, 90er Jahre, dann ab 2000 und das Aktuelle. Sie müssen sich eine Pyramide vorstellen, die auf dem Kopf steht. Unten Zeppelin, oben Outcast. Wir spielen zu 50 Prozent Musik aus dem laufenden Kalenderjahr. Zurzeit bessern wir bei den 80ern und 90ern nach, weil sich ein großer Teil unseres Publikums in dieser Zeit musikalisch sozialisiert hat.

Wer ist Ihr Publikum?

Leute zwischen 35 und 50, eher in urbanen Verhältnissen lebend, Berlin, Cottbus, Frankfurt. Junge Familien, aber auch Singles.

Im Unterschied zum seligen Kollegen Peel scheinen Sie sich vor dem Mainstream nicht zu ekeln?

Wir wollen kein Collegeradio sein. Das können wir uns gar nicht leisten. Wir brauchen Publikum. Wir wollen den Mainstream, wir spielen den Mainstream und – das ist das Wichtigste – wir definieren auf unsere Art den Mainstream.

Mit R.E.M. und U2?

Wir haben bei Radio Eins Entdeckungen gemacht, auf die wir stolz sein können. 2Raumwohnung, Wir sind Helden. Da wussten wir sofort, das müssen wir machen. Das passt in diese Zeit, das gehört auf diese Welle. Rein ins Programm. Die hatten damals noch keinen Plattenvertrag, heute sind sie Mainstream, wenn man so will. Vor einiger Zeit kam eine Promoterin zu mir, sie sagte, ich möchte dich bitten, zwei Songs in Ruhe anzuhören, bis zum Ende. Sie blieb dabei vor meinem Schreibtisch sitzen, was mir an sich nicht so recht war. Dann sagte sie, das ist Frauenmusik, spiel es deiner Frau vor und ein paar Kolleginnen. Was wir hörten,war Annett Louisan, sie ist der Shooting Star der Saison.

Die will jetzt jeder entdeckt haben.

Ich streite mich da nicht.

Wie ist das Verhältnis zwischen Wort und Musik?

Fifty-fifty.

Dürfen sich die Moderatoren für ihre Sendungen Musik aussuchen?

Naja, sie sollen sich bei der Arbeit wohlfühlen. Anja Caspary liebt Cheap Trick mit „I want you to want me“. Das kriegt sie alle viertel Jahre. Und dann freut sie sich.

Welche redaktionellen Vorgaben gibt es für die Musik-Specials ab 21 Uhr?

Möglichst gar keine. Nun präsentieren wir viele Konzerte, da muss schon mal der eine oder andere Hinweis untergebracht werden. Aber in der Regel kommen die Kolleginnen und Kollegen mit ihren eigenen Platten und CDs ins Studio und fahren ihre Sendung.

Sie selbst moderieren mittwochs die „Prime Cuts“.

Es ist geil, Å’ne eigene Sendung zu haben. Hier ist die und die Scheibe, und du findest den dritten Titel super und kannst das zehntausend Hörern da draußen klar machen.

Wäre John Peel mit Ihnen zufrieden?

Peel war einmalig, mit seinem Humor, seinem Charme. Was wir machen können ist, was wir tun. Es gibt einen Song von Tom Petty, „The Last DJ“. Da heißt es, „he plays what he wants to play“. Immerhin haben wir solche Leute noch, jeden Abend.

Das Gespräch führte Frank Junghänel.

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