Advent, Advent, Albencharts zum Jahresend. Diesmal wieder eingebracht in voller Teamstärke, also mit insgesamt drei Platzanweisern. Dass es ein reiches Jahr war, werden die Nennungen hoffentlich zeigen. Und wie immer: nicht vergessen, Eure eigenen zu nennen. Kommentare zu den Vorgestellten nehmen wir selbstverständlich auch gern entgegen.
Drittes Album von Vessels. Ich kannte sie vorher nicht, was vielleicht der Platzierung geholfen hat. Denn obwohl dieses Album als Abkehr von ihrem bisherigen, gemeinhin als „Postrock“ identifizierten Sound wahrgenommen wird, sehe ich da jetzt nach Anhören der vorigen Alben keine drastischen Änderungen. Es ist mehr Elektronik im Spiel, bewegt sich aber alles in dieselbe Richtung. Und da gibt es nur eine: immer geradeaus, im gefühlt immergleichen Tempo, das ich assoziativ mal mit der Sportart „Gehen“ in Verbindung bringen möchte.
In dieser fast schon sturen Zielgerichtetheit lädt die Musik zur Kontemplation ein, bietet zugleich aber noch genügend Reize, um nicht völlig spannungslos zu werden. Sowohl fürs Joggen als auch fürs konzentrierte Arbeiten zur Begleitung bestens geeignet und empfohlen.
Langes Haar und glatte Haut im Gesicht – Jaakko Eino Kalevi ist nicht gerade der Prototyp eines Musikers aus dem Jahr 2015. Ist der Bühnen- und Hauptstadtvollbart etwa ein Auslaufmodell? Sein hübsches, blasses Äußeres, eigentlich die perfekte Voraussetzung für eine Modelkarriere bei Fair Organic, hat ihn trotzdem nicht daran gehindert, als Straßenbahnfahrer für einen bekannten finnischen Verkehrsbetrieb zu arbeiten.
Was ihm da tagtäglich in der Frontscheibe begegnet ist, war womöglich so unaufgeregt wie die Musik, die sich auf »Naturally« findet: Die Vorstufe zu dem, was gemeinhin als Entspannung betrachtet wird. Ganz unaufgeregt melodiös. Mit wachem Verstand. Am Puls der Stadt. Als Vorgeschmack auf sein Debütalbum veröffentlichte Weird World 2014 die EP »Dreamzone«. Als Appetizer vorweg sozusagen. Inspiration für seine Songtexte holt sich der Sänger übrigens auch aus Zeichentrickserien und Online-Foren.
Rein äußerlich erinnert Max Richters „Sleep“-Projekt an Andy Warhols gleich betitelten Film aus dem Jahre 1964. In diesem lässt sich etwas über fünf Stunden ein schlafender Mann bestaunen, während Max Richters Director‘s Cut der musikalischen Variante uns wiederum geschlagene achteinhalb Stunden in den Bann schlägt. Vergleichbar ist aber letztlich nur die – gemessen an üblichen Rezeptionsgewohnheiten – Radikalität, mit der dem flotten Kunstgenuss die Länge des Schlafs in den Weg stellt wird.
Denn bei der musikalischen Version handelt es sich nicht um einen Schlaf, sondern um den Weg dahin und um den auszuhalten, muss man schon extrem wach sein. Daher ist Max Richters „Sleep“ wohl eher mit Saties Idee, Musik als Möbel aufzufassen („Musique d’ameublement“), zu vergleichen. In diesen um 1920 verfassten fünf Werken für Salonorchester handelt es sich um kurze Stücke, die beständig wiederholt werden sollen. Wie Möbel lenken sie nicht weiter vom Alltag ab, aber bereichern durchaus den Wohnraum.
Will man „Sleep“ angemessen rezipieren, ist es notwendig, etwa acht Stunden, bevor man ins Bett gehen möchte, die leider nur digital erhältliche Aufnahme hochzufahren, was wohl in der Regel auch nur in den eigenen vier Wänden möglich ist. Ablenken darf man sich nicht lassen, da man ja sonst nicht einschlafen würde. Andererseits ist „Sleep“ nicht nur als sehr langes Wiegenlied aufzufassen, sondern auch als Versuch, die Schönheit des Schlafs in den Tag zu retten. Und genau deshalb habe ich mich in Max Richters aus über 30 verschiedenen Variationen zusammengesetztes Klangbett kurz nach der Veröffentlichung mehrmals gerne hineinsinken lassen!
Relativ frisch reingekommen und für mich auch insgesamt sehr frisch ist diese australische Band.
Vielleicht, weil die Stimme der Leadsängerin mich unter anderem auch an Joanna Newsom erinnert, die Musik aber eben nicht zum Kunstlied sich hinentwickelt (ich darf schon mal spoilern: Newsoms Album ist nicht in meinen Top 10 dabei), sondern die Widerborstigkeit bewahrt und sehr gut zur von zahlreichen Tempowechseln geprägten Rumpelmusik passt. Wenn schon Katzenjammer, dann aber richtig und mit Lust am Schreien und Pauken.
Mit »Leftism« veröffentlichen Leftfield 1995 ein wegweisendes Elektro-Album, das mit Gastbeiträgen von u.a. John Lydon (Public Image Ltd.), Toni Halliday und Djum Djum Berimbou Geschichte schreibt. Viele Jahre sind seither vergangen und es hätten noch viel mehr werden können, wenn da nicht dieses schmerzhafte Druckgefühl in der Brust gewesen wäre. Ja, ja, wenn die Psyche aufs Herz schlägt. Vermutlich stand Neil Barnes sowieso in jeder Minute der letzten 20 Jahre mit halbem Fuß auf einer Ganztonleiter.
»Alternative Light Source« ist zumindest mehr als das Wissen um die eigene Vergangenheit. Verfall ist hauptsächlich ein biologischer und die präventive Konservierung der eigenen Kreativität – so die These – eine mentale und somit abrufbar. Mit (wie in Barnes’ Fall) oder ohne Depression. Starring Tunde Adebimpe (TV On The Radio) und Jason Williamson of Sleaford Mod
Während ich „Innerspeaker“ (2010) samt des betörenden Covers liebte, das Album aber erst kurz nach dem damaligen Jahrespoll entdeckte, war mir wiederum der Hype um das m.E. langweiligere zweite Album nicht ganz verständlich. Umso mehr erfreute mich, als mir mit „Currents“ ein Tame-Impala-Album begegnete, das in gewisser Weise die Versöhnung von analogem Psychedelic-Rock und Digitalpop darstellt und auf Anhieb zu meinem Sommeralbum des Jahres avancierte.
Auch auf Machtdose las ich einen Tag nach meiner Erstrezeption unter „Plattenteller“ über ebendieses: „Gerade so genial. Gehört neben Zahnpasta, Badeanzug und Sonnenhut in jeden gut sortierten Reisekoffer. Album of the year?“ Einmal mehr war ich erstaunt, wie bisweilen das, was dort zu lesen ist, inhaltlich mit dem, was in meinen Kopf spukt, zu identifizieren ist …
Georgia Barnes ist Georgia – und zwar komplett. Alles selbst eingespielt und produziert in zwei Jahren. In eine Familie hineingeboren, die selbst fest installiert ist in der Londoner Clubszene, mit 8 Schlagzeug geschenkt bekommen, mit Anfang 20 bereits auf mehreren Veröffentlichungen mitgedrummt, ins Studio gezogen und so ungefähr jeden Beat aufgehoben und verarbeitet, der grad rumlief.
Und so gibt das Album tatsächlich einen recht guten Querschnitt dessen, was in letzter Zeit so Grime, UK Garage und andere Beatgenres auf der Schippe hatten. Kann man auch ein bisschen streberhaft finden, weiß aber zu unterhalten und ist sehr abwechslungsreich, von düster bis Haudrauf bis elektroballadesk.
Passend zum Jahrhundertsommer: ein Melodiengewitter von achtbarer Stärke. Hätte ich so nicht unbedingt in Nord-London vermutet. Im Ergebnis aber regenfreie Entladungsenergie. In einer schnörkellosen Begriffswelt nennt man das Indierock, wendungsreich im Old-School-Algorithmus. Wie schön das klingt, wenn Eure Majestät, der Produzent, auf gängige Politurpasten verzichtet, zeigt sich bei »A Dream Outside« in seiner vollen Länge. Das Ungeschliffene, das Tame Impala nie haben werden und Pavement berühmt gemacht hat.
Zeigt sich auch im Instrumental »Dark Star« (entspricht in der Analogie dem »Crooked Rain, Crooked Rain«-Klassiker »5-4=Unity«). Das eine Kult, das andere 2015. Zusammengefasst: Bekanntermaßen ist der engste Nachbar der Melodie die Euphorie (und die macht manchmal einfach nur Sinn, so für den Augenblick).
Gäbe es einen Wunderapparat, der die Musik meiner Lieblingsbands über Jahre hinweg analysiert und daraus eine eigenständige Platte synthetisch herstellt, vielleicht käme dabei der „Deerhunter“-Sound heraus. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – haben mich deren Veröffentlichungen (von der Single „Helicopter“ abgesehen) nie gänzlich überzeugt, da mein Geist zwar stets willig, indes mein Fleisch in dem Sinne schwach war, als sich keine Euphorie einstellte.
Damit ist jetzt aber ein für alle Mal Schluss, denn auf „Fading Frontier“ ist eine Deerhunter-Leistungshow zu erleben, die bei allem eigensinnigen Getüftel und Geflirre insgesamt zu einem atmosphärischen Dreampop gelangt, der genau das erreicht, was ich zuvor vermisst habe.
Der Melancholie nicht abgeneigter, trotzdem schwebendleichter Pop meets Club. Wie ich finde, sowieso eine der besten Kombinationen, vorausgesetzt, es gelingt. Nicht von ungefähr fühle ich mich an Moderat erinnert. Es singt Ry Cumings, der sonst bei der Band The Acid vorsteht, es spielt Felix Wiedemann, sonst Teil des Houseduos Âme. Es pluckert warm, es wird schönstens falsettiert. Fürs abendliche Beisichsein, ohne die Ausgehtauglichkeit zu verlieren.
»Borndom« ist nach »Phillips« der zweite große Satz Melodien des Frankfurter Elektro-Allrounders (»The melody man from the outback of Frankfurt«). Da regt sich wieder und wieder die Hand zum Applaus (maßvoll übertrieben). Lauer ist kein Veränderer, sondern Teil eines bewährten Systems. Seine durchtriebene Formel: 80s Synth-Pop mit leicht verhangenem New Wave. Italo. House. Borndom ist selbstverständlich weder boring noch langweilig. Borndom ist die Jagd nach dem Erlebnis (oder für den Drinnen-Typ: dem Erlebten). Der Blick, vom Hochstand aus, auf den Funkenwald. Ein veritabler Nummer-eins-Hit findet sich auch: »ESC« (feat. Jasnau). Wie der Name schon sagt: der Rausschmeißer des Albums (und ein Clubnachtbeschließer). Das Cover ist übrigens Programm: Achterbahnspaß pur.
Nie hätte ich gedacht, dass eine „The“-Band, die zudem noch gefühlt im 2005er-Fahrwasser mitschwomm, noch einmal in einen meiner Polls aufgenommen wird. Schlimm eigentlich, wie sehr auch das eigene Konsumverhalten mit der Mode mitschwingt! Aufgrund einer lobenden Besprechung im „Spex“ habe ich mich aber doch entschieden, dem Album eine Chance zu geben, und schon mit dem ersten Durchgang wurde klar: 2005 hin oder her (die erste Maccabees-Platte stammt übrigens aus dem Jahre 2007), hier entlädt sich pure Lebensfreude. Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme und das getragen von dieser wunderbaren Stimme, die dafür sorgt, dass das Ganze nicht peinlich-pathetisch, sondern schlichtweg erhaben erscheint. Daher bitte ich alle 2005-nicht-mehr-uptodate-Finder: Prüft dieses Überlebenszeichen!
Es taucht zweimal der Name Barnes auf, weil nämlich Leftfields Neil Barnes (Gregors Nr. 9) der Vater von Georgia ist (meine Nr. 8) – ich hab es im Text bei Andeutungen belassen, weil ich diese verwandschaftlichen Zurechnungen eher hinderlich für die Rezeption finde, wenn jemand vorrangig als Kind von wahgenommen wird, wenn sie aber schon so nah beieinander, aber unabhängig voneinander auftrauchen, sei doch mal drauf hngewiesen.
Das kann ich jetzt schon voreilig sagen: Dieser 2015er Poll wird mich bereichern.
Kurzer Einwurf: Meine EP des Jahres: Lea Porcelain (siehe Plattenteller) – das Beste an düsterer Musik respektive Joy-Division-Revival seit Langem. Für ein Konzert würde ich mir sogar noch einmal Kajal auftragen!
Frohes Neues, ihr 3!
Überraschend viele Überschneidungen finde ich bei Roland und Seb, was nicht so überraschend ist.
Ich habe in diesem Jahr erstmals keine Album – Top 10 gemacht. Warum, weiß ich auch nicht. Unten angefügt ist die Playlist meines Radio X Jahresrückblickes. Hört ihr eigentlich noch Radio X?
Wie auch immer, Sufjan Stevens hat das Album des Jahrzehnts gemacht. Für mich auf einer Stufe mit „I’m a Bird Now“ von Antony damals, wenn nicht besser. Holly Herndon macht aufregende, neue Musik. Sehr gut. Floating Points löst Versprechen ein. Panda Bear muss keine mehr geben.
Gregor, ich habe in Genghar reingehört und verstehe, was du in Bezug auf die Produktion meinst. Aber wie bitte soll man diese schlimme Stimme auf Albumlänge ertragen?
Ich bin erleichtert, dass Kendrick Lamar hier nicht auch noch ganz vorne steht. Habe das Album nicht vertanden. Meine Rap Platte 2015 kommt von Milo. So entspannt und poetisch wie die Digable Planets damals.
Warum hat keiner von Euch das Tobias Jesso Jr. Album in seiner Liste? Und wo ist die Prinzhorn Dance School EP?
Wo ist das Unknown Mortal Orchestra Album?
Beste Grüße!
Der Machtdose Jahresrückblick auf Radio X:
Prinzhorn Dance School – Reign
Panda Bear – Crosswords
Rival Consoles – Ghosting
Tame Impala – Reality In Motion
Unknown Mortal Orchestra – Multi-Love
Milo – Zen Scientist (feat. Myka 9)
Hudson Mohawke – Indian Steps feat. Antony
Holly Herndon – An Exit
Beach House – Sparks
Foals – Mountain At My Gates
Tobias Jesso Jr. – Can We Still Be Friends?
Father John Misty – Bored in the USA
Sleater-Kinney – No Cities To Love
Jessica Pratt – Game That I Play
Sufjan Stevens – Should Have Known Better
Klar läuft hier noch radio x! :O) Tobias Jesso Jr. habe ich tatsächlich noch nie von gehört, wird aber gleich mal nach geforscht. Prinzhorn Dance School lief sogar sehr oft bei mir, also mindestens fünf Mal, weil ich’s ziemlich toll fand, ist wohl zwischen 11-15 gelandet. Unknown Mortal Orchestra: Die Single hätte es korrekterweise in die Single-Charts schaffen müssen, Album fand ich dann nur so la la. Auch so ein bisschen weggdrückt: Father John Misty…
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