Gregors No. 2:
Mildlife – Automatic
([PIAS] / Heavenly Recordings)
Die fünf Pollpausenjahre setzen mir mächtig zu, muss ich zugestehen. Seit Tagen betrauere ich, dass der Musik mittlerweile die Einordnung in den politischen, biografischen, historischen oder soziokulturellen Kontext völlig abhanden gekommen ist. Mit dem Niedergang der Spex (2020 auch als Online-Magazin) ist zudem die Quelle, aus der ich über Jahrzehnte meine Haltung zu Musik definiert habe, endgültig abhandengekommen. Getrauert hat diesmal kaum jemand. Nun bin ich länger schon ByteFM-Leser, die neben ihrem Online-Radio einen schönen Blog betreiben, der mich regelmäßig auf neue Releases aufmerksam macht und außerdem musikjournalistisches Drumherum bietet. Hier bin ich auch auf „Automatic“ aufmerksam geworden. Mildlife verkörpern genau das, was sich in meiner Musik-Sammlung seit Jahren unter immer neuen Bandnamen wiederfindet: Musik irgendwo zwischen Pop und Psychedelic-Rock, die sich ihre Inspiration aus den 80er Jahren zieht – mit starker Fixierung auf die Melodieführung, analogen Flächen und repetitive, geradezu hypnotische Rhythmen. Nicht erst seit Phoenix, die wir nach Auswertung all unserer Bestenlisten zur Jahrhundertband erklären durften, feiert dieser Sound seine Renaissance. Es hat den Anschein, als wäre der Sound der 80er nie weggewesen. Nicht zuletzt deshalb ist die Zuschreibung eigentlich irreführend. Wir haben es hier nämlich mit etwas Epochalem zu tun.
Rolands No. 2:
Half Waif – The Caretaker
(Anti / Indigo)
Am häufigsten gehört. Weil die Platte früh da war und weil ich sie oft hören wollte. Vor allem ist das ein Album als Album, die Abfolge der Songs hat sich längst so eingebrannt, dass sie unhinterfragbar scheint und eigentlich darfst du das Ganze dann auch nur als Ganzes hören. (Ich habe z. B. erst vor kurzem bemerkt, dass ein reines Instrumentalstück sich drauf befindet, es ist eben perfekt eingepasst). Möglicherweise für viele eher konventionell-süßlicher Piano-mit-Gesang-Pop. Mir aber war es, anders kann ich das nicht sagen: ein Trost in diesem Jahr.
Gregors No. 1:
Caribou – Suddenly
(City Slang / Rough Trade)
Dass Audio-Streaming-Dienste das Hören der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden, habe ich zwar schon 2012 in einem Artikel auf Machtdose geäußert, ich selbst nutze aber erst seit drei Monaten (sic!) einen dieser Dienste systematisch. Mal abgesehen davon, dass die Programmierung keine Sammlungsverwaltung berücksichtigt und ihre algorithmischen Zufälligkeiten nie und nimmer zu einer echten Erzählung führen werden, ist es vor allem die Individualisierung eines Lebensgefühls namens Popkultur, der ich misstrauisch gegenüberstehe. Die eigene Befindlichkeit als Maßstab für die Gesellschaft ist nicht nur der Megatrend der Stunde, m.E. bildet sich dieser auch in der Diversifikation der Musiklandschaft ab. Das heißt jetzt nicht, dass wir alle zusammen Händchen halten und Caribou hören sollten, es fällt aber auf, dass sich deutlich weniger Gemeinsamkeiten in den Jahresbestenlisten finden lassen. Es wird halt auch unglaublich viel interessante Musik veröffentlicht und vieles davon findet nur noch nebenher statt; der routinierte Griff zu Altbekanntem ist auch ein Stück weit dem starken Abrieb der Jugendjahre geschuldet. Caribou mochte ich schon zu Manitoba-Zeiten. „Suddenly“ ist nicht nur mein meistgehörtes Lieblingsalbum des Jahres, sondern auch Dan Snaith’s Meisterstück.
Rolands No. 1:
Laura Marling – Songs For Our Daughter
(Chrysalis / Partisan)
Bis jetzt hat es praktisch jedes ihrer Alben in meine Jahres-Top10 geschafft und diesmal auch an die Spitze, weil : sie wird auch immer besser. So zeitlos: hätte genau so 1983, 2004 oder 1972 erscheinen können und wäre in gleicher Weise in die Allzeit-Bestenbibliothek unumstößlicher Klassiker eingegangen. Eine Nummer eins für jetzt und immerdar – unpathetischer mag ich das gar nicht ausdrücken.
Zum Abschluss geben wir Euch noch unsere Lieblings-Einzelstücke aus diesem Jahr, nicht in Form eines Rankings, sondern jeweils die persönlichen Lieblinge als aufeinander abgestimmte Mixreihenfolge. Findet Ihr unten sowohl als Youtube- als auch als Spotify-Playlist eingebunden. Viel Spaß damit!
Moin,
sehr bitter ist es, dass ich erst gestern durch Roland erfahren habe, dass der Jahrespoll, der in seiner 2020er-Ausgabe insofern historisch zu nennen ist, als Rolands Top-10 ausschließlich weiblich besetzt ist, wieder lebt. Aber besser jetzt als nie.Daher möchte in aller Bescheidenheit verspätet noch meine Lieblingsplatten 2020 benennen:
Platte des Jahres:
Sinai Vessel: Ground Aswim
Platz 2-9 nur in ungefährer Reihenfolge:
– Iliketrains: Kompromat (kompromisslos düster)
– Sufjan Stevens: The Ascension
– Sophia: Holding On / Letting Go
– Hachiku: I probably be asleep (ein bisschen wie Beachhouse)
– Adrianne Lenker: Songs
– Woodkid – S16
– Palace Winter – … keep dreaming, buddy (psychedelische Indie aus Dänemark)
– Agnes Obel – Myopia (mein Soundtrack zum ersten Lockdown; die Interpretin habe ich jahrelang nicht beachtet)
– The Düsseldorf Düsterboys – Nenn mich Musik (Ende 2019, da aber noch nicht beachtet)
In diesem Sinne:
Indie ist tot. Es lebe der Indie. Ich bin immer wieder dabei!
S.
Obwohl es vielleicht niemanden interessiert:
Habe bei meiner Auflistung: NEØV – Picture of a good life (finnischer Wave)
vergessen. Meine Lieblingssongs 2019/20 sind diese:
https://open.spotify.com/playlist/4MTUfAjxEzrLekEWzMV2CQ?si=VpIRNbCJSLWINslNwYsuiA
„Mildlife“ (kannte ich noch nicht) gefällt mir sehr gut! Angenehm krautig-psychedelisch. Die gehasste Panflöte ist witzig!
Adrianne Lenker, die neue Sevdaliza, die neue Caribou und Friends of Gas hatte ich auch auf dem Schirm und für gut gehalten. Phoebe Bridgers ist mir zu brav! Habe es wirklcih öfter versucht. Fontaines D.C. habe ich öfter gehört, aber nicht mehr in Erinnerung.
Höre mir jetzt noch anderes aus eurem Poll an! Stecke zur Zeit in einer Musikkrise und hoffe auf Inspiration!
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