Zum Inhalt springen

V/A: Chicago 2018…It’s Gonna Change (Clearspot/EFA)

chicago 2018The globe’s gonna change – die Welt steht Kopf. Der gesellschaftlich-ökonomische Umbruch, in dem wir uns gerade befinden, begreifen die einen als große Chance, andere hingegen bekommen schnell ein nasses Höschen und befürchten den Verlust von Tradition und Werten. Ein Allheilmittel für unsere Zukunftsvorsorge ist die gängig gewordene Fusion, auch gerne Übernahme oder gar feindliche Übernahme genannt (allen Begriffen gemein ist der Umstand, daß es sich meist um ein aggressives und hetzerisches Vokabular handelt). Jüngster Coup war die Traumhochzeit der beiden Geldkonzerne Deutsche Bank und Dresdner Bank. Auch in diesem Fall sind die Meinungen sehr gespalten. In erster Linie sind es die Aktionäre und Großanleger, die sich freuen, da sie aus dem Zusammenschluß das größte Kapital ziehen können. Der kleine Bruder, das Volk, wird sich, ob er nun Kunde ist oder den Kunden bedient, zunächst einmal seiner Unwichtigkeit im Geldsystem bewußt. Darüber hinaus steht bei Fusionen dieser Art zu befürchten, daß sie zum großen Jobfresser eskalieren. Widerstand seitens der Nadelstreifen ist nicht zu erwarten!

Other worlds, other habits – das Phänomen ist nicht nur in der Finanzwelt zu beobachten. Schließlich birgt die Idee, etwas näher zusammenzurücken, auch seine positiven Seiten. In anderen Welten, vorzugsweise diejenigen, in denen das Profitinteresse keine zentrale Bedeutung hat, denkt man auch an Formen der Verschmelzung. Die World of Music, hier ist vornehmlich jene gemeint, welche nicht am Ende eines Geschäftsjahres mit Bilanzen kokettieren muß, arbeitet unentwegt an neuen Formen und Visionen, um Ungewöhnliches oder gar Neues zu erschaffen. Abermals handelt es sich hier um Fusionen, wenngleich es sich auf einer anderen Bedeutungsebene abspielt. An allen Ecken und Enden wird neu kombiniert: Jazz, Elektronik, Rock, Soul, House, Dub…alles bewegt sich innerhalb eines Aktionsradius. Neue, streitbare Synonyme werden auf uns einschlagen wie Karnevalsbonbons (dieser Crossover heißt dann Nu Jazz, Two Step, Neo-Psychedelik oder auch Illbient).

In Staate Illinois finden wir direkt am Michigansee liegend die Millionenstadt Chicago, auch >Windy City< genannt, mit einer beispiellosen Musikszene. Diese Stadt steht exemplarisch für das bunte, experimentelle Treiben in der Schallandschaft unserer Zeit. Die Kompilation Chicago 2018...It's Gonna Change wirft einen sehr genauen Blick auf diese Musikszene und deren intensive Auseinandersetzung sowohl mit traditionellen als auch mit neuen Soundideen. »Hier ist ein Zirkel von Musikern aktiv, der keine Genre-Grenzen kennt und jenseits der Argusaugen großer Medien und Talent-Agenturen Zeit hat, um sich zu entwickeln. Musiker aus Punk, Jazz, freiimprovisierter- und elektroakustischer Musik, Country, Folk, Blues, Siebzig- und Zwanzigjährige, Schwarze und Weiße verschmelzen hier zu einer Familie, wie man sie an anderen Stellen vergeblich sucht« heißt es treffend im Booklet der Doppel-CD. Das Tracklisting gibt Aufschluß über die Besetzung: Tortoise und die Country-Heulsusen Freakwater, beide im Remix, der brillante Sam Prekop von der Band The Sea & Cake , der extrem exzentrische Songwriter Bobby Conn, das Wüsten-Dub-Rock-Projekt Tricolor um Jazz-Trommler Dave Pavkovic, der auch bei dem Quartett Toe 2000 mitwirkt (beides wirklich heiße Eisen!), Isotope 217° um Rob Mazurek (eine mit Tortoise eng verbundene Jazz-Combo) sowie Pullman um Bundy K.Brown, Friedrich Nietzsche der Chicago-Szene und ehemaliger Tortoisianer (zehn weitere, hier namentlich ungenannte Bands komplettieren das Feld). Dieser vielfältige künstlerische Zusammenfluß scheint in Chicago ein Klima innerhalb der Musiker geschaffen zu haben, welches entgegen der hier landläufigen Vorstellung eines Proto-Amerikanismus auf einer großen Herzlichkeit beruht und dessen Möglichkeiten der fruchtbaren Zusammenarbeit erschöpfend ausgelebt werden. Bei allen Belobigungen der Sekundärerscheinungen wie Szene und Klima darf nicht verloren gehen, daß die Musik geradezu entzückend vor sich hinfließt. Slam! (01:01) und das NRG Ensemble (08:34) bilden da die Ausnahme. Der Rest ist breitgefächerter Chicago-Sound, den man problemlos genießen kann, ohne sich dabei zu verschlucken.

Schlagwörter: