Eine gut abgehangene Rockplatte überschreitet in der Regel eine Laufzeit von 35 Minuten nicht, die Liedlänge bemißt 2:50, sie besteht aus Einfach-Vinyl und während des Abspielens befällt den Erlebnisrezipienten eine innere Unruhe, die ruhig auch mal in kleinere Gewaltausbrüche ausufern kann, ohne das man dabei das Lächeln im Gesicht verliert. Le Tigre aus New York und Chicago haben mit ihrem gleichnamigen Erstling ein solches Standardwerk hingelegt. Sie sind das Recyclingprodukt einer bereits verflossenen Frauenband namens Bikini Kill, und die Rede ist hier nicht von anrüchiger Wiederaufarbeitung, sondern vom guten, für uns Erdlinge viel verträglicheren Alternativen, dem Kompost und seiner Verwertbarkeit.
Zur Sache: die 90er-Jahre waren ein einziger Hype. Die Medienexplosion hat bereits die Baumkronen der dem Ursprung verpflichteten Urwaldriesen erreicht. Musikalische Strömungen sind zu Genüge entstanden, wurden dann jedoch sehr schnell durch die Mühle namens Mainstream geklopft und spätestens nachdem das Polit-Mag Spiegel einen bestimmten Stoff vereinnahmte, galt musikalisch Erdachtes und Entstandenes als extrem ungeil. Die Popularitätsmaschinerie zwang eine Bewegung in die Knie. Bikini Kill sind in die Klauen des Hypes geraten, ohne daß sie wirklich etwas dafür konnten.
Damals gebar die Presse für die aufkommende Präsenz der Frauen im von Männern dominierten Rockland das kanonisierende Wort Riot Grrrls (auch: Girlism) und nahm, wie sich später herausstellen sollte, dieser kraftvollen Bewegung viel zu früh die Luft aus den Segeln. Die folgenschwere Wahrheit ist seit Grunge bekannt: das Interesse verblaßt, millionenfache Nachahmung führt zu verfaulten Saumägen und in rastlosen Zeiten wie unseren regiert das weitverbreitete Gesetz der lähmenden Einförmigkeit. Die Seattle-Band Pearl Jam etwa unterlag mit ihrer zweiten Platte dem abstumpfenden Zwang der Serie, obwohl sie eigentlich das Gegenteil ansteuerten.
Entgegen der weitläufigen Meinung, ein Firmenjubiläum der Marke Rolling Stones (die Dinosaurier rocken seit knapp 40 Jahren!) sei heute noch erstrebenswert, sieht die Lösung aus dem Dilemma ganz anders aus. Altbackenes hat ausgedient. Den Wirren des Hypes entkommt man elegant durch Auflösung und Neugründung oder indem man sich in unzähligen Seitenprojekten versiebt, um aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Diese Methode war für die Band Bikini Kill die gangbarste Lösung und Wegbereiter für das neue Projekt (altdt.:Band) Le Tigre. Mit dabei: Kathleen Hanna (Bikini Kill), Sadie Benning (Queer-Culture-Aktivistin und Videofilmerin) und Johanna Fateman (Künstlerin und Art-Zine-Produzentin von ‚Artaud-Mania‘ und ‚My Need to Speak on the Subject of Jackson Pollock‘).
Ihr Album kommt im Landhaus oder in einer lärmerprobten 5er-WG am Besten. Sind die denkbar besten Voraussetzungen gegeben, steht einer idealen Verwertung der Lautsprecher nichts mehr im Wege . Die zwölf Lieder der Platte (Deceptacon ist meine Single des Jahres) setzen atemberaubend viel Energiepotential frei und bauen im Umgang mit vergangenen Musikstilen auf ‚produktive Nostalgie‘.
Da wäre zum einen die Anlehnung an den englischen Punk der 70er-Jahre und zum anderen genrefremdes Material wie Sampler, Farfisa-Orgel und ein DJ! Das Aufeinanderprallen dieser grundverschiedenen Module endet aber nicht im paritätischen Zusammenspiel, vielmehr sind die New-Tech-Anteile eher untergeordneter Natur und dienen dazu, an einem neuen Rockverständnis zu arbeiten (neben Le Tigre forschen übrigens jede Menge anderer Rocker an samplergestützten Klanggebilden und bereiten die Zukunft vor).
Das alles unterliegt allerdings den in Gesangsform vorgetragenen Wutausbrüchen Kathleen Hannas, die kompromißlos gegen die Sprachohnmacht der Techno-Generation ansingt. Ihre Stimme kokettiert in den schrillsten Momenten mit meinem empfindlichen Körper und verpaßt mir Gänsehaut. Le Tigre est fantastique!