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Matthew Herbert – Plat du jour

Matthew Herbert - Plat du jour Kennt eigentlich schon jeder die neue (7/2005) Platte von Matthew Herbert? Plat du jour heißt sie, Food Sounds enthält sie, eingespielt von dem wahrscheinlich größten Orchester der Welt: 24.000 Küken hat’s da drauf, Neugeborene, die kurz vor den Aufnahmen zur Welt gekommen sind. Das ist aber noch längst nicht alles. 30.000 werdende Brathähnchen und 40 glückliche Freilandhühner tragen ebenfalls ihren Teil zum Gelingen von »The life of a modern industrialised chicken« bei. Natürlich erschließt sich nur schwer, wer und was da wie klingt. Deshalb ist es ratsam, die Gebrauchsanweisung zu studieren, die Matthew Herbert dem Audiomaterial beigelegt hat. Dort erfahren wir, dass eins der glücklichen Hühner während seiner Field Recordings um’s Leben gekommen ist, getötet, um im Warenkorb eines Wochenmarktes zu landen. Die Percussion-Sektion (Leo Taylor) verarbeitet in diesem Track gängige Verpackungsmaterialien: Eierkartons, Eierbecher und die Schalen von 12 Bio-Eiern bilden die Grundlage für den Rhythmus des Tracks, die Schlegel der »Drums« werden durch Essstäbchen ersetzt. Und die Bassline ist das Piepsen eines runtergepitchten Kükens. Ein Narr, wer glaubt, dass hätte keinen Groove (was nicht für jedes Lied auf dem Album gilt).

»Nigella, George, Tony and me« wiederum ist ein Song über das Menü, das Nigella Lawson einst George Bush und Tony Blair zubereitet hat. Hintergrund des Treffens war die Danksagung an Blair für die bis dahin großartige Unterstützung Englands im Irakkrieg. Herbert hat die Zutaten des Menüs nachgekauft, Stück um Stück, um deren Klangfarbe in die Umgebung des Tracks einzubauen. Hinzu kommen die Melodie- und Akkordtöne, klangliche Verfremdungen, die auf einem rundbauchigen Weinglas fußen. Ob das Essen nach den Aufnahmen verzehrt wurde, ist nicht überliefert, wenngleich selbst die Nahrungsverweigerung im herbertschen Sinne als Statement zu betrachten wäre.

»Plat du jour« ist mit Sicherheit nicht Herberts bestes Album, dafür aber das humorvollste. Außerdem versteht es kein anderer Musiker so gut, mit den Mitteln moderner Technik Geschichten zu erzählen, ohne Texte zu schreiben (außer vielleicht Matmos). Natürlich vermag der Track keine Auskunft darüber zu geben, wie es um die Legehennen in großen Zuchtkäfigen bestellt ist, wir erfahren auch nichts über die Opfer des Irakkriegs. Dennoch ist es ein Hochgenuss, sich in die Sekundärliteratur der Platte einzuarbeiten; Die Absichtserklärung findet man in den Linernotes und auf seiner Homepage. Besonders lesenswert ist das Making Of. Dort gibt Herbert all seine Geheimnisse preis, die es auf dem Album zu entdecken gilt: »the sound of San Pelllegrino in glass bottle owned by Nestle« beispielsweise, oder »the sounds of around 3255 people eating an apple«. Schön auch: »the sound of a Slimfast cafe mocha meal replacement drink«. Eine Such- & Find-Anleitung für all jene, die es genau wissen wollen. Danach ist das Leben Musik.

»Plat du jour« ist aber noch viel mehr. »Plat du jour« ist ein in Vinyl gegossenes Pamphlet. Die Musik kreist um Themen wie Krieg, Vegetarismus, Kapitalismus, Imperialismus, Ökologie und Junk Food. Ein stattliches Programm ist da zusammengekommen, das als Positionspapier Musik und Politik zusammenbringt, um am Ende wahrscheinlich in einem Museum zu landen. Damit kann man Wahlkampf machen und auch auf Tour gehen. Herbert wird beides tun – und Applaus dafür ernten. Gefragt ist sie ohnehin, diese Art der Meinungsäußerung, an der Welt ändern wird sie nichts.

Sendung vom 08.09.2005 – Radio X
01. Art Brut — My little brother (Fierce Pan)
02. Whitey — A Walk in the dark (1234 Records)
03. finn. — Electrify (Sunday Service)
04. finn. — It may not last (Sunday Service)
05. Jullander — Die Yamanote-Linie [Lawrence RMX] (Sunday Service)
06. Jullander — Der Tragödie erster Teil [J. Etienne RMX] (Sunday Service)
07. Egoexpress — Aranda [Lawrence RMX] (Ladomat/Mute)
08. Coloma — No moving parts (klein records)
09. Herbert — The life of a modern industrialised chicken (Accidental)
10. The American Analog Set — Cool kids keep (Morr Music)

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