Carstens Nr. 3:
Nation Of Language – Strange Disciple
(PIAS)
Das Alter bringt schon so seine Überraschungen mit sich. Ausgerechnet Gregor, einer der Owner dieses Blogs, Nick Cave-Verehrer und in Formen alternativer Gitarrenanwendung bewandert, einigt sich dieses Jahr mit mir auf Nations Of Language. Die Brooklyn-Band, die vor 3 Jahren als sehr sehr eng an den Originalen orientiert mit schmucken Postpunk, Synthwave, Darkwave, und anderen „man kanns schon nicht mehr hören“-Pastiches auffiel.
Wie schon von Gregor beschrieben: So langsam schält sich hier eine echte Identität raus, es blitzt auch mal etwas Chartspop von OMD durch (Obwohl die mich auf ihrem letzten Album einmal mehr mit Leftfield-Pop überrascht haben. Hat aber nicht für diese Liste hier gereicht). Ich höre auch etwas Blancmange, aber sei es drum. Devaney, Noell und MacKay sind zu New Yorker Hipster-Darlings gereift. Im Video zu „Too Much, Enough“, einer pluckernden Popperle, von Kraftwerk-Arpeggios angetrieben, drängeln sich Jimmi Simpson, Adam Green und Kevin Morby um die begehrten Cameo-Plätze.
Auf „Strange Disciple“ tritt Devaney mehr als auf den Vorgängern aus dem Hallraum nach vorn, macht sich hör- und verwundbarer. Und damit auch den Weg frei vom Zitateindie zum tatsächlichen Pop, also Soft Cell, oder Depeche Mode der Vince Clark-Ära. Naja, etwas too much Wunschdenken vielleicht. Denn exzentrische Stimmen sind ja aus der Zeit gefallen. So denk ich mir den Rest Mut noch dazu und pfeife mit.
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Rolands Nr. 3:
Baril – For You, Forever
(Intercept)
So, hier geht jetzt keiner mit, nehme ich an. Nicht weil’s unzugänglich wäre, sondern das Gegenteil. Ja, Baril mag nur schmalen Kredit auf der Soundbank haben und auf vielen generischen Playlisten Platz finden – Genremusik halt (aber welches eigentlich – Chillhouse?), so gar nicht überraschend, baut dir ne KI easy nach und vor, so bissi hochgepitchte / gefilterte Vocals mit Sinnloszeilen, UK-Garage-Rappel-Beats ausm Setzkasten und Standardflächen.
Also genau das, was ich brauchte, offenbar, dieses Jahr: entspannt mich bestens, kann einfach immer laufen und lief und lief und lief, weil lässt mich happy Mitnicken und ausgeglichen werden. Das Album als Feelgoodserie, bei der du gerade kein anstrengenden Konflikte willst, sondern möglichst simple Stories und Figuren, genug zum Abschalten, Runterkommen, Wegdämmern. Hält die Seele clean!
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Gregors Nr. 3:
Sofia Kourtesis – Madres
(Ninja Tune)
Dass in der Medienlandschaft bisweilen noch Platz ist für junge Popkultur, zeigt der Fall der peruanischen Musikerin Sofia Kourtesis. Über ihre Albumveröffentlichung haben quasi alle berichtet, von Pitchfork bis Zeit, und es dürfte kaum jemand entgangen sein, dass der Charité-Chirurg Peter Vajkoczy einen Song auf dem Album gewidmet bekommen hat („Vajkoczy“). Er ist nicht nur bekennender Berghain-Fan, sondern auch Lebensretter von Kourtesis einstmals schwer erkrankter Mutter.
Die musikalische Spannbreite der in Berlin lebenden Musikerin bewegt sich irgendwo zwischen intimen Clubsounds, sonnigen Stränden und einer dröhnenden Demonstration in den Straßen von Lima. Ihre Gabe, vorgestrigen Tonschnipseln neues Leben einzuhauchen, gehört zu den großen Besonderheiten dieses Albums. Nirgendwo sonst wird das so deutlich wie in „Estación Esperanza“, in dem sie Field Recordings von einer Demo für LGBTQI+-Rechte mit Manu Chaos „Qué horas son, mi corazón?“ mischt. Die mantraartige Wiederholung der überhörten Hookline aus dem Jahr 2001 gehört auf jeden Fall zu den Höhepunkten des Albums. Und überhaupt: Auf den zehn Songs findet sich viel Politik, sie selbst ist Aktivistin. Auch wenn Club, Tanz und Politik seit Jahrzehnten miteinander verflochten sind, ist die Eindeutigkeit, mit der sie hier Position bezieht, immer noch die große Ausnahme. Mit fallender Tendenz.
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Carstens Nr. 2:
Gaz Coombes – Turn The Car Around
(Hot Fruit Recordings)
Manchmal, ganz selten mittlerweile, starte ich Songs und habe sofort feuchte Augen. So geschehen bei „Don’t Say It’s Over“. Cimbalom und Falsettchor, schwere Drums und Klavierfundament, darüber eine schmerzverzerrte Fuzzgitarre. Es reißt mich weg.
Kaum zu glauben, das ist Gaz Coombes. Ich sehe ihn noch mit French Cut und ironischer Cordhose mit dem Bonanzafahrrad durch die 90er Jahre fahren. Das war mit seiner Band Supergrass, Britpop war groß und der Dekade schien die Sonne aus dem Arsch. Dann kam das Leben.
Auf dem Cover seines vierten Solo-Albums sitzt er immer noch lässig, aber merklich geerdet auf dem fleckigen Teppich seines Heimstudios, die Jazzmaster in der Hand. Doch das ist nur Slackertum. Coombes ist zu einem der sichersten und tollsten Songschreiber Englands herangereift. Er bedient nicht nur sein Instrumentarium souverän. Er spielt mit der eigenen Geschichte, zitiert die Gesten und Hooks des Britpop – aber sie kratzen nervös, ein melancholischer Grundton zieht sich durch, die Aufgekratztheit ist einem durch und durch nüchternen Blick auf die Welt nach 2010 gewichen. „Long live the strange“ rotzt er ihr entgegen, „It’s the fate of the young ones/Shaking all the nightmares.“ Die Krise – vielleicht ersetzt sie Posen und Positionen ja wieder mit Songs, die Schauer über den Rücken jagen. Was war nochmal KI?
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Rolands Nr. 2:
Róisín Murphy & DJ Koze – Hit Parade
(Ninja Tune)
Also der Albenname haut für mich schon sehr hin. Zwei haben sich tatsächlich gefunden. Produktionsseitig hat sich das wohl über die Pandemiejahre im Remote-Pingpong hingezogen, scheint mir doch ne nette Abwechslung gewesen zu sein, klingt dafür gar nicht zerpuzzelt, sondern erstaunlich homogen, also wohl über die Zeit amalgamiert: Stimme, Samples, greift alles wunderbar ineinander, Humor sowieso.
Was Erfahrung doch so ausmacht. Vier Fäuste für ein Hitalbum. Kann man eigentlich nur sagen: viel Spaß damit!
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Gregors Nr. 2:
bar italia – Tracey Denim
(Matador)
Wer erinnert sich nicht gerne an die Zeit zurück, als die Plattenkritik noch das Maß aller Dinge war? In verdrehten Print-Artikel geheimen Botschaften herauslesen, die zu dem nächsten großen Ding führen? LOL, aber cool! Rückblickend betrachtet ist diese Form des Rezipierens vielleicht vergleichbar mit den Rätselheften vom Kiosk, nur viel lehrreicher (unnützes Wissen und so). Wir alle wissen, was danach passiert ist, so zirka 2018.
Auch wenn man den Musikjournalismus nicht gleich für tot erklären muss, das, was bis heute an den Printauslagen im Einzelhandel überlebt hat, ist nun mal nicht meins. Stattdessen Switchen, Swipen und Adden wir, was das Zeug hält, wenn es ums Auffinden interessanter Neuerscheinungen geht. Und der liebe Gott ist ein Algorithmus. Heißt aber auch: Nicht jede Vormerkung, die in meiner „Bibliothek“ landet, hör‘ ich mir dann auch geflissentlich an. Und damit zu bar italia, klein geschrieben, dem Hype der Stunde aus London, der sich kurioserweise in kaum einer Bestenliste findet (warum eigentlich?). Es hat einen Augenblick gedauert, bis es bei mir Klick gemacht hat (gemeint ist das oldschoolige Klicken aus dem Maschinenraum). Sodann aber richtig und hoch und runter und immer mehr. Zu den 100 Dingen, die man in seinem Leben getan haben muss, zählt zweifelsohne der Besuch von Rough Trade West in Ladbroke Grove, und zwar just in dem Augenblick, in dem der Store-Betreiber eine Platte auflegt, der alle im Laden erliegen. Die Platte könnte von bar italia sein.