Carstens Nr. 6:
Young Fathers – Heavy Heavy
(Ninja Tune)
Der letzte Song auf dem nun wirklich einzigartigen Debütalbum von Massive Attack hieß „The Hymn of The Big Wheel“, ein langsam pluckernder Grower, der sich aus der Bristoler Triphopigkeit langsam ins Hypnotische schraubt. Neneh Cherry kommt hinter der Bassbox hervor und stimmt in den Kehrvers ein: „The big wheel keeps on turning / On a simple line, day by day / The Earth spins on its axis / One man struggles while another relaxes” Ein später Entschlüsselungsmoment.
Auf dem vierten Album der schottischen Young Fathers aus der russgeschwärzten Hügelstadt Edinburgh gibt es auch so einen Titel. Gut, ist der vorletzte, aber ich lass mir jetzt die Analogie nicht versauen. Bei „Holy Moly“ entlädt sich all die Düsternis und Schwere der Welt in einem choralen Mantra: „Oh won’t you come over / Better grab your chance / With both hands if you want to / Before we’re damned / Let’s go beyond the edge / To another plain / So much more to gain”. Ganz beruhigend, dass am Ende alles gut werden kann. Auf allen Songs zuvor schichtet das Trio in Talking Headsesker Happening-Logik Layer um Layer, bricht mit Stilvorgaben und Songstrukturen, ist wild und dunkel und wütend. Aber auch mutig und irgendwie erlösend. Gute Väter sind so.
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Rolands Nr. 6:
bdrmm – I Don’t Know
(Rock Action)
Wie Carsten schon bei seiner 10 feststellte: Shoegaze kann mittlerweile vieles sein (Eigentlich erstaunlich für ein Genre, das wie kaum ein anderes auf eine einzige Platte zurückgeht). Hier haben wir die vorrangig optimistische, stellenweise fast schon poppige Jungvariante, mit Elektrospielzeug angefüllt, wo es passt, aber die Gitarren eiern dennoch schön, klar und laut.
Wohin das noch geht, mal schauen, schlimmstenfalls in Richtung Schuhstarr-Schlager, bestenfalls in dessen Madchester (stell ich mir geilo vor).
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Gregors Nr. 6:
Nation Of Language – Strange Disciple
(PIAS)
„Strange Disciple” ist das dritte Album der Brooklyn-Band Nation Of Language innerhalb der letzten vier Jahre. „Introduction, Presence“, ihr Debüt aus 2020, wurde noch mit dem Hochzeitsgeld finanziert, das Sänger Ian Devaney und die Frau an den Synthesizern, Aidan Noell, von ihren Hochzeitsgästen geschenkt bekommen haben. Devaney: „We still haven’t had a honeymoon but we have the first record”.
Hoppla! Das zweite Album wäre ohne Minijobs wohl auch nie entstanden. New York muss man sich eben auch leisten können, um es zu lieben. Beide Alben waren aber letztlich so erfolgreich, dass die Umstände, unter denen nun „Strange Disciple“ entstanden ist – sagen wir mal – mehr Raum ließ? Die Band bezieht sich neben Kraftwerk, Can und New Order gerne auf „Electricity“ von OMD. Alles richtig. Müsste man die Aufzählung noch um ein Instrument ergänzen, wäre der Mini Moog zu nennen. New Wave und Synth-Pop eben. Und nie besser als gut produziert („Perfect is the enemy of the good”). Man hört, das Ehepaar hätte seit kurzem nicht mehr so viel Zeit, mit ihrer Katze Loaf in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung in Prospect Lefferts Gardens abzuhängen. Erfolg hat nun mal seinen Preis und wer seine Flitterwochen opfert, um womöglich die ganze Welt zu bereisen, hat alles richtig gemacht. Demnächst auch in deiner Stadt!
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Carstens Nr. 5:
JIM – Loves Makes Magic
(Virious Charm Recordings)
Keine Ahnung, wieso ich bei JIM reingehört habe. Ich hatte einen ähnlichen Zufallsfund, als ich im Plattenladen der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, damals über ein Cover mit einer kitschigen Blumenmakrofotografie gestolpert bin. Doch während „Century Flowers“ von Shelleyan Orphan im Anschluss wenigstens von ein paar Eingeweihten gekannt wird, bin ich bei JIM immer noch recht allein auf weiter Flur. Nur in der Bestlist von Marcus „Bungalow Records“ Liesenfeld ist er auch aufgetaucht. Passt auch.
Ich hab das Cover auf Bandcamp gesehen. Rene Magritte meets Breughel. Und es hat mich so angeknipst wie einst Nick Drakes „Bryter Layter“ auf einem Flohmarkt in Paris. Und da ist auch schon das erste Fitzelchen, das man bei Jim Baron so aufspürt. Crosby, Stills und Nash auch. Und so ein wenig kalifornischen Blue Eyed Soul. Und dann aus dem Nichts noch so smoothe Westcoast-Beats.
Es ist ein wunderbares Album, durch und durch Songwritertum, nie zu bräsig oder verjammert, sondern gekonnt auf der Kante zwischen Sensibilität und Lässigkeit balancierend. Es muss schon seit Jahren quasi fertig im Kopf von Baron schlummern, der ansonsten in einem anderen Kontext zum Disco/Deephouse-Clan Crazy P. gehört. Völlig andere Welt. Hier ist er – vielleicht – bei sich, paart Melancholie mit Matureness und Rhythmus mit Gitarre. Es stimmt. Liebe kann zaubern.
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Rolands Nr. 5:
Isolée – Resort Island
(Resort Island)
Je nun, ich wusste, dass das passiert – ratet mal, von wem ich den Tipp bekam (auf meine Beschwerde hin, ich hätte dieses Jahr in Sachen Elektronik noch nichts Bezwingendes gehört). Tja, und seitdem dotze ich fröhlich mit. Isolées seit jeher vorhandenes Talent aus meiner Sicht ist: Sounds und Beats scheinen eigentlich nur halbfertig hingesetzt, daraus ergibt sich aber plötzlich der ganze Groove, das ist schon ein bisschen Zaubertrick.
Was eine schöne Spannung erzeugt: kommt einerseits sehr lässig daher, was zugleich sofortige Tanzenwollenenergie erzeugt.
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Gregors Nr. 5:
James Holden – Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities
(Border Community)
Eigentlich ist die Geschichte der elektronischen Musik im Großen und Ganzen erzählt und man könnte sich geruhsam mit den zigtausend Alben aus der Vergangenheit vergnügen und die Entdeckungsreise der nachwachsenden Generation überlassen. Alt ist das neue Neu. Ist natürlich zu einfach gedacht und hat wenig mit Lebenslust zu tun. Erfinderisch zeigt sich der 44-jährige Brite auf seinem vierten Longlayer also nur beim Albumtitel, der Sound selbst bleibt erkennbar selbstreferentiell und basiert im Wesentlichen auf den bekannten holdenschen Retrotexturen und seinem retrofuturistischem Ideenreichtum.
Das klingt dann nicht nur besonders schlau, sondern auch ziemlich ausgefallen. Als besonders gelungen empfinde ich, wie Holden quasi unentwegt auf Höhepunkte hinarbeitet, die dann einfach nicht kommen. Das ist grenzwertig verwirrend und genau daraus bezieht das Album seine spirituelle Kraft und Magie.
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Carstens Nr. 4:
Unknown Mortal Orchestra – V
(Jagjaguwar)
It’s in the blood. Ruban Nielson ist eine der Gallionsfiguren der Neo-Psychedelic-Welle in Australasien, neben Kevin Parkers Tame Impala und vielleicht noch den Spinnern von King Gizzard & the Lizard Wizard. Der Sound ist in dieser Region der Erde fest verwurzelt, wurde da eins von den Beatles und Grateful Dead losgetreten, und wird jetzt wieder zurück importiert. Ein fast traditioneller Vorgang.
Nielson, mit hawaiianischen Wurzeln ausgestattet, folgt diesem Pfad, und meldet sich aus seiner neuen Heimat Kalifornien zurück. Doch dieses – boah große Worte – White Album-hafte Doppelalbum ist nur an der Oberfläche eine trendige neue Manifestation von UMO. Unter der wie gewohnt perfekt lackierten und veredelten Oberfläche geht es depressiv zu. Nielsons ohnehin nicht ereignisarmes Liebesleben eskaliert und drückt, der Zustand der Welt geht unter die Haut.
Und das ist der große Unterschied zu den anderen Stylern der Genres: Hier wird viel von kulturellen Wurzeln gelebt, bahnen sich australasiatische Folklore und Popkultur immer wieder Schneisen im Psychopop-Dschungel, aber man bleibt hängen in der Introspektion und der persönlichen Not, die einen so nah und universell berührt, als käme sie von einem schwermütigen Nachbarn. Ich bin schwer beeindruckt und rechne mit noch besseren Metaphern, wenn die Vinylausgabe endlich unterm Weihnachtsbaum liegt, und ich noch mehr eintauchen kann.
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Rolands Nr. 4:
James Holden – Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities
(Border Community)
In Bezug aufs Albenküren hätte ich dieses Jahr vielleicht nicht mit Gregor auf dreitägige Wanderung gehen sollen, da haben wir natürlich auch ausgiebig über Musik geredet und so schon gemeinsame Favoriten herausgearbeitet – so dass wir also vielleicht deswegen auch mehr Gemeinsames zu nennen haben als in den Jahren zuvor…
James Holdens Album hatte ich zu dem Zeitpunkt schon nach erstem, oberflächlichem Hören als uninteressant weggelegt, nach Gregors vorsichtigem Veto aber auf der Rückfahrt unserer Tour, im ICE sitzend, nochmal auf die Playliste gebracht und da, im Abendlicht durch die hessische Hochebene rauschend dann doch noch meine Epiphanie gehabt: ziemlich großartiges Album.
Es ist schon auch als Trip zu hören, mir scheint, sehr bewusst organisch angebaut, es zirpt, flötet und sprotzelt, gibt mehr Wellen als strenge Takte – ich möchte sagen: fast schon eine heidnische Feier ( glücklicherweise aber ohne jede auch nur ansatzweisen religiösen Anklänge).
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Gregors Nr. 4:
Róisín Murphy & DJ Koze – Hit Parade
(Ninja Tune)
Róisín Marie Murphys Moloko-Phase ist mehr oder weniger spurlos an mir vorbeigegangen. Klar, „Sing it back“ ist ein Evergreen, aber um ehrlich zu sein: Verführung auf der Tanzfläche hört sich für mich anders an (oder etwas drastischer gesagt: ganz übel, dieser Song). Es hat also ein gutes Vierteljahrhundert gedauert, bis ich überhaupt bereit war, den Verführungskünsten der irischen Sängerin erliegen zu wollen. Genau genommen war das im Jahr 2021, als ich an „Róisín Machine“ geraten bin und bis heute glaube: House at its best auf Albumlänge. Kommt etwa so selten vor wie Hochwasser in Hamburg, sofern ich das beurteilen kann.
„Hit Parade” kann da vielleicht nicht mithalten, aber Murphy und Koze im Duett? Das klingt nicht nur auf dem Papier wie ein Dream Team. Was wohl passiert, wenn zwei Rezepte im gleichen Topf landen? Auf jeden Fall wird kein Eintopf draus. Selbst verkocht besteht „Hit Parade“ weiterhin aus zwei Tonspuren. Die eine ist für Murphy reserviert, die andere besteht aus dem unverwechselbaren Soundallerlei Kozes. Murphy hat sich dadurch einmal mehr neu erfunden und Koze, der Underground-Hüne mit Exzellenz-Prädikat, wird plötzlich ein Fall für den roten Teppich. Die gegenseitige Anerkennung aber, man spürt sie bis in die tiefsten Ebenen des Albums hinein.