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Die besten Alben 2021 – Plätze 10 (bzw. 11) bis 8

Gregors (Extra-) No. 11:
Róisín Murphy – Róisín Machine
(Skint Records / Warner)

Trotzplatzierung, klar, war schon 2020, aber: „Róisín Machine“ ist eine perfekte House-Platte, die dich mit ihrem Klangbild ungespitzt in den Boden rammt. House auf Albumlänge erweist sich in der Praxis ja oft als tückenhaft und Königsdisziplin der plastifizierten Klangrille, doch in so seltenen Momenten wie diesem wird die imponierende Erhabenheit und Schönheit dieses Genres so überdeutlich wahrnehmbar, dass es völlig egal ist, ob das Album dieses oder letztes Jahr veröffentlicht wurde. Die Hauptsache es ist im Kreise derer, die ich nun öffentlich meine Liebsten nennen kann. Dieses Drucklevel hat vor ihr zuletzt Luomo mit „Vocalcity“ erreicht, sagt einer, der House mag und viel zu selten hört.


Rolands No. 10:
Indigo De Souza – Any Shape You Take
(Saddle Creek)

Gar nicht mal so seltener Indierock. Mit Zusatzqualitäten wie: durch viele Register changierende Stimme, Musik ein Gestrüpp aus Pop und Gitarre. Es geht von zarthauchigen Autotunegespinsten über stellenweise Krachrumpelberge. Insgesamt rhythmisch interessant, dennoch Sound wie aus einem Guß. Was das Ganze auch gut als Album zusammenhält.


Gregors No. 10:
Maurice Summen – PayPalPop
(Staatsakt / H’Art)

Kennt keiner, glaubt keiner, aber es existiert: Das Beatbauer-Prekariat. Im Niedriglohnsektor bisher eher unterrepräsentiert, was die öffentlichkeitswirksame Erscheinung ihrer Zunft anbelangt. Maurice Summen hat nun gnadenlos aufgedeckt, wie die Musikbranche weltweit versagt! 1.000 Euro hat der Die-Türen-Sänger in die Hand genommen und war damit auf globaler Shopping Tour auf der Suche nach brauchbaren Unterlegen für seine Dichtkunst, handwerklich betrachtet gehört Summen nämlich zu den besten Liedtextern der Welt – ungeprüft versteht sich. Das teuerste Musikalbum aller Zeiten mit Kosten von rund 30 Millionen Dollar stammt übrigens von Michael Jackson und ist kein Meter besser als  PayPalPop.


Rolands No. 9:
Ross from Friends – Tread
(Brainfeeder / Ninja Tune)

Ross from Friends war mir zuvor durch Einzeltracks nicht unangenehm aufgefallen, also habe ich mich mit mildem Interesse seinem Zweitling zugewandt. Der stellte sich als ein Elektronikalbum jener Qualität heraus, die es dann auch gerne in meine Jahresbestenlisten schaffen: kannste jederzeit anwählen, nie anstrengend, läuft ganz freundlich und angenehm zu allen denkbaren Tätigkeiten durch und mit. Und – das muss ja jetzt auch unbedingt gesagt werden – wann, wenn nicht jetzt, bräuchte nicht jeder und jede genau solche Begleiter zum Nervenzähmen, Mitwippen und Herunterkommen? Na also.


Gregors No. 9:
LUMP – Animal
(Chrysalis Records / Partisan Records)

Ich bekenne gleich zu Beginn: Nicht oft gehört. Wie bei vielen anderen auch begann mein Verhältnis zu LUMP mit einer Single. „Animal“ heißt sie, so wie das Album. Das hat mir als Sound-Erlebnis erstmal gereicht (zumal die Single ein Hit ist), bis ich neulich über die Rough-Trade-Jahrescharts gestolpert bin, die ich zum Nachbacken wärmstens empfehle. Auf dem Schwarzmarkt des Alleswissens dann folgendes entdeckt: Sie, Laura Marling, und er, Mike Lindsay, Gründungsmitglied der von mir geliebten Band Tunng, sind LUMP. Beide haben bereits schweres Metall um den Hals hängen (Brit Award, Mercury Prize). LUMP sind trotzdem keine großen Berühmtheiten im herkömmlichen Sinne, eher im Nischenland daheim, wo ganze Herden ihre Nahrung finden. Ihre Kunst: Klingklang-Indie vom Feinsten (Soundbeschreibung aus Machtdose-Poll 2012) mit unübertrefflichem Gesang und unterm Strich sehr modern trotz folklastigem Funkenflug.


Rolands No. 8:
CHAI – WINK
(Sup Pop / Cargo)

Erstmal alles wie gehabt, wenn das Japanklischee zuschlägt: Pyjamaparty / Kindchenschema, quietschbunt, Überdosis Niedlichkeit. Haut aber auch nicht hin, weil: jede Menge Widerborst und Eigenstand mit dabei. Weshalb diese Gegenüberstellung zu einfach ist; vielmehr amalgamiert alles mit allem, das Bedienende und Nichtbedienende, und wird so komplett ermächtigend: Plastik Love und Elektroclash, gehört alles CHAI. Das ist alles, nur eines ist es nicht: naiv.

Gregors No. 8:
Houeida Hedfi – Fleuves de l’Âme
(Phantasy Sound / Pias)

Eindrucksvolles Debüt der tunesischen Multi-Instrumentalistin Houeida Hedfi, die sich für die Produktion von „Fleuves de l’Âme“ Olof Dreijer von The Knife an ihre Seite geholt hat. Fun Fact: Die Geschichte besagt, dass Hedfi ihr erstes Schlagzeug im späten Alter von 27 Jahren bekam. Sie schloss sich erst einer Stambeli-Gruppe an, die afro-arabischen Sufi-Trance-Musik spielte, bevor ihr Wunsch nach Selbstverwirklichung so groß wurde, dass sie begann, selbst Musik zu machen. Neben Olof Dreijer, der die komplexen Klangsituationen eindrucksvoll in Beziehung brachte und Contemporary Electronica unter die analogen Instrumente mischte, finden sich auf dem Album noch die tunesische Geigerin Radhi Chaouli und die palästinensischen Bouzouk-Spielerin Jala Nader. Jedes Stück ist nach einem anderen Fluss benannt. Und so, wie Mekong, Nil, Ganges, Medjerda und Donau ihre jeweils eigenen Strömungsgeräusche haben, verbindet sich die Musik auf „Fleuves de l’Âme“ zu einem einzigen langen Fluss.

Aqual(o)unge 19

As a late surprise another volume, I just found enough tracks in my folder. More ambient and a little bit shorter as usual, but anyways. There has to be a no. 20 too now (but then the series will really find its end)

  1. 00:00 – 09:31 THE LOVELY MOON – as the sun rises CC BY-NC-SA
  2. 03:32 – 10:01 OWL’S HEAD MOUNTAIN – memory field CC BY-NC-SA
  3. 05:21 – 07:41 IÑAKI BARROCAL – dive CC BY-NC-SA
  4. 08:30 – 12:24 OLE BREUER – in dubio CC BY
  5. 14:53 – 19:12 THE D3VI7 – dragon lady [Dancefloor Socialism DFS001] CC BY-NC-ND
  6. 19:00 – 23:29 INSANITY CIRCLE – warm up [Monofónicos MNF036] CC BY-SA
  7. 18:45 – 23:10 CROAVIG – aster [Soisloscerdos SLC49] CC BY-NC-ND
  8. 23:01 – 25:46 IGNACIO TARDIEU – nashira [insectorama100 episode 3] CC BY-NC-ND
  9. 25:18 – 30:00 TNKS – surfing [Sucu Music SCM-2001] CC BY-NC-SA
  10. 29:44 – 33:01 AMOTKEN – exp 9 [Abstract Reflections AR_097] CC BY-NC-ND
  11. 32:48 – 36:43 EMMERICHK – dub 3 [Modismo M023] CC BY-NC-ND
  12. 36:29 – 39:43 MON GROOVE – monkey cage CC BY-NC-SA
  13. 39:16 – 42:30 OPOLLO – hive mind CC BY-NC-ND
  14. 41:29 – 47:39 KANZ – restless [Mahorka mhrk272] CC BY-NC
  15. 46:00 – 50:03 EEEM [EIM] – foi (avec et sans) CC BY-NC-SA

Podcast February 2021

This is the end of our little show after 15 years (started in November 2005). Some statistics: with this last episode we’ve played 2,610 tracks from 74 countries in 135 episodes and produced 160 hours in total introducing music we really really liked and that accompanied us through all these times. You can find them all listed in a long Google-Docs-Spreadsheet with links to their release sites (as they still exists). On the last tab of the sheet you also find a list of all Machtdose-Podcast-Episodes with direct links to their mp3s.

The motivation for this thingie has declined over the last year as it was harder to find Creative Commons licensed music that passes our personal standards, probably for two reasons a) obviously in times of platforms as Spotify (where you can put your music by yourself) it isn’t as attractive to use this kind of licensing anymore and b) at least in in the last five years I’ve found the music mainly on Bandcamp and I used some more or less complex Google searches for it. And these aren’t working anymore – after Google algorithms have changed a few times too often as it seems.

Anyways, everything has to end eventually. Thanks to all our fond listeners.

By the way: In my listing above I haven’t count in the mixes I did as Machtdose (Aqual(o)unge series and others). Probably I will add one little mix after this last regular episode in a few weeks – but than that’s really it.

  1. Reverboy – Warmcold (feat. Santiago Georgetta) CC BY
  2. Alberville – Windows CC BY-NC-ND
  3. denise – got it CC BY-NC-ND
  4. GOODGIRL – Poison Girl CC BY
  5. K.óla – Plastprinsessan vaknar [post-dreifing] CC BY
  6. Isaac Schanklar – Isolation Canon (brass trio version) CC BY-NC
  7. Eeem [eim] – A Few Dozen Hours to Wait CC BY-NC-SA
  8. cover athlete – sweetness ’03 CC BY
  9. Lone Cosmonaut – Station [The Committee For Sonic Research] CC BY-NC-SA
  10. Kraftfuttermischwerk – Schon schön CC BY-NC-SA
  11. Vulpes – Druids [Amen-Tal] CC BY-SA
  12. aodán r – STRANDS OF LIGHT CC BY

Die besten Alben 2020 – Plätze 2 und 1 und die besten Tracks 2020

Gregors No. 2:
Mildlife – Automatic
([PIAS] / Heavenly Recordings)

Die fünf Pollpausenjahre setzen mir mächtig zu, muss ich zugestehen. Seit Tagen betrauere ich, dass der Musik mittlerweile die Einordnung in den politischen, biografischen, historischen oder soziokulturellen Kontext völlig abhanden gekommen ist. Mit dem Niedergang der Spex (2020 auch als Online-Magazin) ist zudem die Quelle, aus der ich über Jahrzehnte meine Haltung zu Musik definiert habe, endgültig abhandengekommen. Getrauert hat diesmal kaum jemand. Nun bin ich länger schon ByteFM-Leser, die neben ihrem Online-Radio einen schönen Blog betreiben, der mich regelmäßig auf neue Releases aufmerksam macht und außerdem musikjournalistisches Drumherum bietet. Hier bin ich auch auf „Automatic“ aufmerksam geworden. Mildlife verkörpern genau das, was sich in meiner Musik-Sammlung seit Jahren unter immer neuen Bandnamen wiederfindet: Musik irgendwo zwischen Pop und Psychedelic-Rock, die sich ihre Inspiration aus den 80er Jahren zieht – mit starker Fixierung auf die Melodieführung, analogen Flächen und repetitive, geradezu hypnotische Rhythmen. Nicht erst seit Phoenix, die wir nach Auswertung all unserer Bestenlisten zur Jahrhundertband erklären durften, feiert dieser Sound seine Renaissance. Es hat den Anschein, als wäre der Sound der 80er nie weggewesen. Nicht zuletzt deshalb ist die Zuschreibung eigentlich irreführend. Wir haben es hier nämlich mit etwas Epochalem zu tun.


Rolands No. 2:
Half Waif – The Caretaker
(Anti / Indigo)

Am häufigsten gehört. Weil die Platte früh da war und weil ich sie oft hören wollte. Vor allem ist das ein Album als Album, die Abfolge der Songs hat sich längst so eingebrannt, dass sie unhinterfragbar scheint und eigentlich darfst du das Ganze dann auch nur als Ganzes hören. (Ich habe z. B. erst vor kurzem bemerkt, dass ein reines Instrumentalstück sich drauf befindet, es ist eben perfekt eingepasst). Möglicherweise für viele eher konventionell-süßlicher Piano-mit-Gesang-Pop. Mir aber war es, anders kann ich das nicht sagen: ein Trost in diesem Jahr.


Gregors No. 1:
Caribou – Suddenly
(City Slang / Rough Trade)

Dass Audio-Streaming-Dienste das Hören der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden, habe ich zwar schon 2012 in einem Artikel auf Machtdose geäußert, ich selbst nutze aber erst seit drei Monaten (sic!) einen dieser Dienste systematisch. Mal abgesehen davon, dass die Programmierung keine Sammlungsverwaltung berücksichtigt und ihre algorithmischen Zufälligkeiten nie und nimmer zu einer echten Erzählung führen werden, ist es vor allem die Individualisierung eines Lebensgefühls namens Popkultur, der ich misstrauisch gegenüberstehe. Die eigene Befindlichkeit als Maßstab für die Gesellschaft ist nicht nur der Megatrend der Stunde, m.E. bildet sich dieser auch in der Diversifikation der Musiklandschaft ab. Das heißt jetzt nicht, dass wir alle zusammen Händchen halten und Caribou hören sollten, es fällt aber auf, dass sich deutlich weniger Gemeinsamkeiten in den Jahresbestenlisten finden lassen. Es wird halt auch unglaublich viel interessante Musik veröffentlicht und vieles davon findet nur noch nebenher statt; der routinierte Griff zu Altbekanntem ist auch ein Stück weit dem starken Abrieb der Jugendjahre geschuldet. Caribou mochte ich schon zu Manitoba-Zeiten. „Suddenly“ ist nicht nur mein meistgehörtes Lieblingsalbum des Jahres, sondern auch Dan Snaith’s Meisterstück.


Rolands No. 1:
Laura Marling – Songs For Our Daughter
(Chrysalis / Partisan)

Bis jetzt hat es praktisch jedes ihrer Alben in meine Jahres-Top10 geschafft und diesmal auch an die Spitze, weil : sie wird auch immer besser. So zeitlos: hätte genau so 1983, 2004 oder 1972 erscheinen können und wäre in gleicher Weise in die Allzeit-Bestenbibliothek unumstößlicher Klassiker eingegangen. Eine Nummer eins für jetzt und immerdar – unpathetischer mag ich das gar nicht ausdrücken.


Zum Abschluss geben wir Euch noch unsere Lieblings-Einzelstücke aus diesem Jahr, nicht in Form eines Rankings, sondern jeweils die persönlichen Lieblinge als aufeinander abgestimmte Mixreihenfolge. Findet Ihr unten sowohl als Youtube- als auch als Spotify-Playlist eingebunden. Viel Spaß damit!

Gregors Beste Tracks 2020:


Rolands beste Tracks 2020:

Die besten Alben 2020 – Plätze 4 und 3

Gregors No. 4:
Fleet Foxes – Shore
(Anti / Indigo)

Ich war eigentlich fein mit dem einen, herausragenden Album der Fleet Foxes (auch schon wieder zwölf Jahre her) und bin in „Shore“ eher reingestolpert. Zum Glück. Mit den Fleet Foxes verhält es sich wie mit einem guten alten Freund, den man länger nicht gesehen hat. Sofort vertraut, wahre Freundschaft eben, die den ständigen Wechsel der Jahreszeiten und den Kreislauf allen Lebens von Jahr zu Jahr spürbarer werden lässt. Die Fleet Foxes bleiben auch auf ihrem vierten Album dicht und ergreifend, die Stimme von Robin Pecknold das Maß aller Dinge, Himmelsmelodien, die weit über der Landschaft schweben. Mit dem Eröffnungsstück „Wading in waist-high water“ ist der Pegelstand bereits so hoch, dass sofort Wasser über die Ufer tritt, danach fließt das Licht von allen Seiten hinein. Und fließt. Und fließt. Und fließt.


Rolands No. 4:
Sophie Hunger – Halluzinationen
(Caroline / Universal)

Lange etablierter Name, nie wirklich mit beschäftigt, bis zu diesem Album. Das schlug aber unmittelbar ein, schon beim ersten Hören. Das Dings wurde als Ganzes live in einem Take eingespielt (es brauchte aber wohl sechs Durchläufe, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht war). Ob das jetzt für den wahrscheinlich beabsichtigten organischen Gesamtsound sorgte, sei mal dahingestellt, jedenfalls ist ein rhythmisch interessantes wie verspultes Album mit ebensolchen Texten herausgekommen (mehrsprachig, was vielleicht bei einer Schweizer Globetrotterin auch zu erwarten ist). In Zukunft jedenfalls bin bei Sophie Hunger sofort mit dabei.


Gregors No. 3:
Bent – Up in the Air
(Godlike & Electric)

Bent aus Nottingham haben für das Gute-Laune-Gefühl ordentlich Vitamin D in
ihre Musik gepumpt – beigemischt mit Exotica, Easy Listening und vielen anderen Downtempo-Sounds. Das Supervitamin, das ihnen einen Platz im Apothekerschränkchen sichert, scheint aber trotzdem bis heute zu fehlen. Bent kennt: NIEMAND. Zumindest kommt mir das so vor. Zwischen „Up in the Air“ und ihren Vorgängeralben lag eine ziemlich lange Pause, Google war noch ein Geheimtipp und StudiVZ das Netzwerk der Stunde. Es finden sich zwar hier und da digitale Urzeit-Spuren, Ende der 1990er Jahre gab es in England sogar mal einen regelrechten Hype um die zwei Electronica-Produzenten. Ihr aktueller Release wurde aber zumindest in Deutschland weitestgehend ignoriert. Warum nur? Beim Aneignen von Basiswissen gefiel mir die Anekdote besonders gut, der zufolge die Musik von Nana Mouskouri eine ihrer favorisierten Sample-Quellen war. Aber auch das scheint lange her.

[Kein Video von Bent auffindbar.]


Rolands No. 3:
Jessie Ware – What’s Your Pleasure
(Virgin / Universal)

Als ca. 15jähriger, auf einer der Geburtstagsparties im Gemeindezentrum. Jemand kommt plötzlich auf die Idee, aus Spaß die letzte Madonnaplatte aufzulegen. Wir Indienasen beginnen, ironisch dazuzuhopsen. Langsam ändert sich die Energie im Raum, bis schließlich erstmals am Abend überhaupt die Menge zu einer einzigen Tanzmeute verschmolz und, wie man so sagte, die Hütte brannte. Wir haben dann einfach das ganze Album laufen lassen. Das ist so ungefähr mein Initiationserlebnis in Sachen populärer Tanzmusik. Und Jessie Ware gibt einiges davon zurück, eine Retroplatte, mit einem Danceburner nach dem anderen und Anleihen an alle möglichen 1980er-Größen, ohne im reinen Rückwärts, sondern auch ausreichend jetzig zu bleiben. In diesen isolierten Zeiten hat das zumindest meinen – bisher eher theoretischen – Wunsch befeuert, mal wieder auf Tanzflächen hopsen zu gehen und ließ mich zuhause meine eigene Tanzmeute sein.

Die besten Alben 2020 – Plätze 7 bis 5

Gregors No. 7:
Destroyer – Have We Met
(Dead Oceans / Cargo)

Mir dämmert langsam, dass ich mit jedem neuen Song und jedem neuen Album der Referenzhölle ein Stück näher komme. Alles hängt mit allem zusammen, jeden Tag ein bisschen mehr. An manchen Tage fühle ich mich wie ein Algorithmus von Spotify (ich lass das jetzt trotzdem mal alles bei mir). Also, Dinge einfach halten: Destroyer, Songschreiber aus Vancouver, bürgerlicher Name Daniel Bejar, bringt seit 1995 fast jährlich ein Album raus, bis heute 13 an der Zahl. Und seit dieser Zeit denkt Bejar über unsere (kaputte) Welt auf seine ganz eigene Weise nach: „Sing the least poetic thing you can think of and try to make it sound beautiful“, sagte er mal in einem Interview und gab damit zu erkennen, wie er Songwriting versteht. Bejar hat in den letzten Jahren eine beachtliche Fangemeinde hinter sich versammelt, die ihn bei all seinen musikalischen Wandlungen gewissenhaft begleitet. Angeblich haben sie ihm zu Ehren sogar ein Trinkspiel erfunden: „Drink if there’s a reference to fire or other disaster; drink twice for mention of an apocalypse“. Also, Schnapsflasche auf den Tisch und gut zuhören.


Rolands No. 7:
Kelly Lee Owens – Inner Song
(Smalltown Supersound / Cargo)

Gestalterisch das Cover des Jahres. Mir fällt auf die Schnelle und auch bei längerem Überlegen niemand ein, der/die Techno und Pop je so gut zusammengebracht hätte, ohne dass dabei das eine ins andere über- und unterginge, sondern beides tatsächlich stets eigenständig und gleichzeitig da ist. Tanzbar einerseits, Melancholieinseln andererseits.


Gregors No. 6:
Fontaines D.C. – A Hero’s Death
([PIAS] / Partisan)

Das dritte Album sei das schwierigste, heißt es oft. Dabei wird häufig übersehen, dass mit einem guten zweiten Album erstmal die Voraussetzungen geschaffen werden müssen für die Möglichkeit eines historischen Tiefschlags. Den Fontaines D. C. ist das gerade gelungen. Die fünfköpfige Band, die aus Dublins Arbeiterviertel The Liberties stammt, hat sich 2019 mit einem platzierten Schuss in den Winkel urplötzlich auf Augenhöhe mit Bands wie den Arctic Monkeys, Maximo Park und Art Brut gesehen. „Dogrel“ war nichts Geringeres als die Wiedergeburt dessen, was in Großbritannien alle paar Jahre geschieht: Eine neue Welle, die sich über die Insel ergießt und dann zu uns ans Festland schwappt. Mit „A Hero’s Death“ haben die Fontaines D. C. dieses Jahr nachgelegt und sind gleich beim Alterswerk gelandet. „Happiness really ain’t all about luck“ heißt es im titelgebenden Song. Es braucht eigentlich ein paar Alben (und Lebensjahre), um solchen Zeilen zu schreiben.


Rolands No. 6:
Sevdaliza – Shabrang
(Butler / H’Art)

Wisst Ihr noch? Triphop? Irgendwann von der eigenen Erdenschwere erschlagen. Sevdaliza gelingt die Revitalisierung: mit vermutlich sehr bewusstem Rückgriff auf familiäre Musiktraditionen (als Kind aus dem Iran geflohen in die Niederlande). Gerade beim Gesang höre ich jedenfalls deutlich Klangfarbe und Melodieführung „nahöstlicher“ Musik heraus (vielleicht aber auch mein banausisch exotisierendes Hören?). Wenn das mit sporadischem Autotune und allerlei Knisterknaster-Effekten zusammengeht, ist das Ergebnis stellenweise spektakulär und zeigt, was dem untergegangenen Schleppbeatgenre vielleicht vor allem fehlte: Eleganz.


Gregors No. 5:
Golden Diskó Ship – Araceae
(Karaoke Kalk / Indigo)

Von Noiserock über Post-Punk zu Süßpop ist es manchmal nur ein Halbton, wenngleich in der Musik von Golden Diskó Ship sehr viel mehr zu finden ist als ein bunter Strauß schöner Melodien. Obwohl die sechs Songs von „Araceae“ extrem weit auseinander liegen und außergewöhnlich viele Schattierungen, Farbtöne und Texturen vereinen, ist die Gemeinsamkeit eben jener unüberhörbar. Ich könnte jetzt auch Süßpop durch Kammerpop ersetzen und es fiele niemandem auf. Oder Dreampop. Das Album als organisiertes Schallereignis ist bei der Berliner Multiinstrumentalistin Theresa Stroetges auf jeden Fall in guten Händen. Wer genau hinhört, entdeckt unzählige Details und wird hineingezogen in aufregende Klanglandschaften, ohne dabei den Zusammenhang zu verlieren.

Rolands No. 5:
Phoebe Bridgers – Punisher
(Dead Oceans / Cargo)

Das erste, was mir bei Phoebe Bridgers einfällt, ist: „Haunting Music“. Schon beim ersten Album etwa huldigte sie im Video zum damaligen Hit „Smoke Signals“ dem Die-Toten-sind-unter-uns-Klassiker Carnival of Souls und tatsächlich: lässt ihr außergewöhnlich klarer Gesang die Lyrics so deutlich aufscheinen, dass ich ganz genau zuhören will – oder muss, und sie einen beschäftigen und verfolgen. Beim Zweitling wird der Zwischenweltaspekt nochmal besonders ausgespielt: fragmentiert bleibende Songs mit dezenten Hall-, Flüster- und Windeffekten, einer heißt natürlich „Halloween“. Dazu der leicht zu groß geratene Skelett-Pyjama als Tourkleidung, wie ein ironisches Zeichen auf jene rächende Comicfigur, auf die der Albumtitel referenzieren mag. Oder dieses letzte lange, albern wie schaurige Aushauchen am Ende von I know the end, dem Schlussong des Albums, der im übrigen so beginnt: Somewhere in Germany, but I can’t place it / Man, I hate this part of Texas – Denn, was sind Gespenster anderes als: fehlplatzierte Wesen? Was dem/der einen ein Grusel ist, ist dem/der anderen das Gefühl der eigenen Awkwardness. Die Doppelbelichtung ist eines von Bridger’s dauernden Themen, meine ich.