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jahresrückblick 2024

Die besten Tracks 2024

Vielleicht mehr noch als bei der Albenauswahl freuen wir uns selbst immer über unsere Zusammenstellung der besten Songs des Jahres. Bei der gibt es folgende Regel: jeder darf 15 (nur zehn ist zu hart). Unser Freund Carsten hat kurzfristig auch dafür noch beisteuern können, so dass wir also auf 45 kommen und rund drei Stunden Spielzeit allererster Güte, wie wir meinen. Ganz eventuell habt Ihr ja genauso viel Spaß dran wie wir… Wie immer als Spotify-Playlist und barrierfreier und audiovisuell auch als Youtube-Playlist.

Die besten Alben 2024 – Plätze 1

Gregors Nr. 1:
The Cure – Songs Of A Lost World
(Polydor / Universal)

The Cure also, zu meiner großen Überraschung. Es mutet verrückt an: „Songs of a lost World“ ist ihr erstes Album seit 16 Jahren und das erste seit 37 Jahren, das ich häufiger gehört habe. Den Fanpass hatte ich damals direkt nach „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ zurückgegeben. Noch vor der Veröffentlichung von „Disintegration“ war die Spannung raus, jenem Album also, das als Höhepunkt ihres Schaffens und als Referenz für ihr neues Album angesehen wird.

Ich hab’s einfach verpasst. Obwohl ich also mein Timeout hatte, war die Verblüffung stets groß angesichts der Vielzahl an Hits, die sie in den 48 Jahren ihres Bestehens geschrieben haben. Neben den Beatles haben das vielleicht höchstens noch drei, vier andere Bands geschafft. Jedenfalls stand über einem möglichen neuen Album lange Zeit die Frage im Raum: „Wird es überhaupt jemals erscheinen?“. Als die Single „Alone“ schließlich im September veröffentlicht wurde, fünf Wochen vor dem eigentlichen Album-Release, habe ich plötzlich so eine verrückte Vorfreude verspürt, eine Vorfreude darauf, Lieder einer verlorenen Welt hören zu wollen, die all den Weltschmerz wie ein tröstendes Heilmittel bekämpfen. „Alone“ basiert auf einem Gedicht des viktorianischen Dichters Ernest Dowson, in dem es wie bei einem Großteil des Albums um Themen wie Verlust, Vergänglichkeit und dem unheilvollen Ende von Hoffnungen und Träumen geht.

The Cure werden also  – wie ihr Publikum auch – älter. Und man kann es ruhig mal sagen: „Songs of a lost World“ ist eines der besten Alben, das die Band je veröffentlicht hat. Eine Gewissheit hält das Album auch für uns bereit: Die Umarmung zum Trost wird allen zuteil, die sich auf dieses Kunstwerk einlassen. Wie immer und trotz der Dunkelheit, der man während der 50 Minuten begegnet!


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Rolands Nr. 1:
Vampire Weekend – Only God Was Above Us
(Columbia)

Sind auch wieder zurück – und wie. Der treffendste Begriff, den ich gefunden haben, um ihre sehr eigene Musik zu fassen, ist Barockpop. Mit diesem Album haben sie endlich wieder die Kronleuchter herausgeputzt – was heißen soll: den Drive vom allerersten Album wieder aufgenommen, vor allem, was das Tempo der Stücke betrifft. Zugleich wurden die auch ordentlich aufpoliert mit Kinderchören, fallenden Klavierläufen, aufmuckernden Gitarren, spitzen Saxophonen, einigem Geigenstuck – einerseits. Andererseits ist es nicht so glatt-langweilig produziert wie die letzten Alben, sondern scheppert schön, als käme es aus alten durchgeleierten Boxen.

Warum mir die Charakterisierung auch schwer fallen mag: irgendwie ist es auch nostalgische Musik – nur konnte ich nicht die Referenzrahmen so richtig identifizieren. Oft ist es aber bei Nostalgie ja eh so, dass eher imaginierte Zeiten als tatsächliche heraufbeschworen werden, und so vermutlich bewusst auch hier. Das nächste, was mir einfiel, vielleicht: Titelmusik angloamerikanischer Vorabendserien aus der Zeit, als Farbe gerade das neue Ding war.

Vor allem macht’s einfach Spaß. Wenn Cure die Musik für ein Kännchen Schwermut sind, dann ist das hier Tee mit Schuss aus einem vitkorianischen Service für einen leicht beschwippsten Nachmittag.

Die besten Alben 2024 – Plätze 3 und 2

Gregors Nr. 3:
Angélica Garcia – Gemelo
(Partisan Records)

Das letzte spanischsprachige Album, das ich rauf und runter gehört habe, war „Buena Vista Social Club“ von 1996. Das ist schon deshalb peinlich, weil Spanisch eine fantastische Singsprache ist. Angélica Garcia, in den USA geboren und Tochter mexikanischer und salvadorianischer Vorfahren, singt auf „Gemelo“ bis auf wenige Sätze also Spanisch, die Sprache, die etwa 65 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten sprechen. Eine davon ist ihre Großmutter, die ihre englischen Lieder nie verstand. Garcia wuchs in einem stark von der Latino-Kultur geprägten Umfeld in East Los Angeles auf. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Selbstfindungsprozess – hier die zentrale Idee.

Garcia kann übrigens auch ausgezeichnet singen, mit großem Stimmumfang und emotionaler Tiefe, mal fastschreiend, mal geisterhaft. Ganz gelegentlich erinnert sie mich sogar an Elizabeth Fraser, die Frau, die mit ihrer Engelsstimme meine Teenagerjahre bereicherte. Außer der Sprache und dem Gesang fehlt aber noch eine letzte Besonderheit. Es gibt vier Hits auf dem Album – vier von zehn. Garcia war ihr Leben lang von Musik umgeben – ihre Mutter war ebenfalls Musikerin und hatte unter dem Namen Angelica einen Top-40-Hit, ihr Stiefvater arbeitete als A&R, bevor er Priester wurde – da ist das Hits schreiben vielleicht sogar naheliegend. „Gemelo“ ist also ein in vielen Teilen großartiges Album mit ganz wenigen Schwächen. Experimenteller Pop mit lateinamerikanischen Einflüssen, stellenweise elektronisch abgebremst. Sie selbst wollte, dass es ungefähr so klingt: „Como Radiohead, pero con trasero“. Nix comprendido? Ab zu DeepL!


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Rolands Nr. 3:
UTO – When all you want to do is be the part of fire
(InFiné)

Auch wenn Gregor die Metaphorik schon für Peggy Goo bemüht hat: ein einziger Kindergeburtstag. Was also für das Spielerische stehen soll, denn wenn ich jetzt „Elektropop“ zur Einordnung schreibe, greift das ein bisschen kurz, es ist schon stellenweise weit übers Poppige hinaus aufs Tanzen ausgelegt, dann wieder ganz simple ruhige Nummern oder es wird einfach so ein bisschen herumexperimentiert. Auf jeden Fall wussten UTO, ein mir bisher unbekanntes Duo aus Paris, zu überraschen mit diesem sehr unterhaltsamen Album, das ihr zweites ist.

Der untere Session-Auftritt ist offen gesagt nicht sooo überzeugend, das Album dafür aber umso mehr, sonst wärs ja auch nicht meine Drei, ne.


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Gregors Nr. 2:
Nick Cave & The Bad Seeds – Wild God
(Play It Again Sam)

Für mich war es das Konzert des Jahres: Nick Cave & The Bad Seeds live in Berlin. Nick Cave begleitet mich seit 1984, seit dem Release von „From Her to Eternity“. Ich habe seine Songs immer gemocht, mal mehr, mal weniger. Über 40 Jahre Relevanz und Verlässlichkeit – wer kann das schon von sich behaupten? Im Vorfeld des Konzerts hat sich bereits lose angekündigt, dass er sich von der Menge auch nicht mehr als Messias feiern lassen wird (was die erste Reihe im Saal nicht davon abhielt, ihn genau so zu feiern). Zurückgenommenheit tut es plötzlich auch, schließlich hatte er nicht nur den charismatischen Radiohead-Bassisten Colin Greenwood und Swans-Drummer Larry Mullins an seiner Seite (Martyn Casey fiel aus), sondern auch einen Großteil der angestammten Bad Seeds. Vor allem Warren Ellis, der entrückte Multiinstrumentalist mit dem bauchnabellangen Rauschebart und Thomas Wydler an den Drums nahmen sich ihren Raum. Zusammen mit dem grandiosen Backgroundchor stand da also eine Band auf der Bühne, die auch als solche wahrgenommen wurde.

Zuvor hatte Nick Cave sein 18. Studioalbum veröffentlicht, was mich überhaupt mal wieder dazu brachte, ein Konzert von ihm zu besuchen. Vor allem war die stetige Weiterentwicklung seines Sounds die eigentliche Überraschung, orchestraler als zuvor ist es, deshalb auch ausarrangierter, zurück sind (endlich) auch die ekstatischen Ausbrüche, die ich so liebe, es schwebt und leuchtet und dann dieser Chor­ – gerade so viel Gospel, dass es die Stimmung nicht zersetzt. „Wild God“ verbindet auf geniale Weise den meditativen, fließenden Sound der unmittelbaren Vorgängeralben mit der für die Bad Seeds so typischen Muskelkraft. Seine dunklen Jahre sind offensichtlich vorbei. Nick Cave blickt der Zukunft wieder positiv entgegen.  Wer seine Geschichte kennt, darf sich darüber freuen. “We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy” (aus: “Joy”)


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Rolands Nr. 2:
Floating Points – Cascade (Pluto / Ninja Tune)

Floating Points schwirrt neben Caribou, Four Tet und anderen Konsorten schon jahrelang herum, immer mal wieder mit dem einen oder anderen Electronica-Track, der mich zum Mitwippen überreden konnte. Dann wieder mit einer Reihe ambitionierter Projekte, zuletzt das für mich persönlich doch zu sehr weichgespülte, dafür aber kritikerseits gefeierte mit Pharao Sanders. Gerade wenns in die Ambition ging, wurde ich nicht davon abgeholt.

Jetzt aber ein Album schlicht mit 4-to-the-floor Brettern, wobei die Albumdramaturgie strikt vom brettigsten bis runter zu eher unspektakulären Tracks sich ausfadet: dennoch allein die ersten vier Stück sind schon tollste Schwuppdiwuppdinger. Deshalb verdient bestes Elektronikalbum dieses Jahr.

Die besten Alben 2024 – Plätze 6 bis 4

Gregors Nr. 6:
Shay Hazan – Wusul
(Batov Records)

Nach seinem viel beachteten Debütalbum „Reclusive Rituals“ hat Shay Hazan nun sein zweites Soloalbum veröffentlicht. Und jetzt wird‘s kompliziert, weil hier viel zusammenläuft, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Die Musik des Nahen Ostens zum Beispiel, kombiniert mit viel Jazz auch – hier vertreten durch Tenorsaxophon, Gnawa, Gitarre, Perkussion –, als Topics HipHop-Beats, elektronisches Klingklang und Afrobeats und am Ende schön knusprig vergepackt in ein Groove-Mäntelchen.

Shays Signature-Instrument ist die Guembri, eine marokkanische Basslaute mit drei Saiten, die hier noch einen Extrasatz verdient. Man ahnt es: Die Songs entwickeln und verändern sich ständig, geht ja gar nicht anders, wenn jeder Ton mal erklungen sein will. „Wusul“ ist übrigens eine Hommage an sein erstgeborenes Kind. Auch Shay Hazan ist das erste Mal Vater geworden, so wie Michael Kiwanuka (Platz 8) und Joe Talbot (Platz 5). Musste mal erwähnt werden, auch weil es so auffällt.


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Rolands Nr. 6:
SPRINTS – Letter to Self
(City Slang)

Seit ein paar Jahren ist in Sachen Krachgitarre Dublin Welthauptstadt. Dies‘ Jahr sind SPRINTS mit ihrem Debüt nicht mal die Meistgefeierten von dort – sondern andere Bekanntverdächtige. Bei mir aber schon! (kleiner Spoiler für die weiteren Plätze).

Ihr Name passt, einmal wegen der Großbuchstaben, weil halt LAUT und dann nochmal, weil sie in praktisch jedem Song mindestens einmal richtig losrennen.

Vor ein paar Wochen dann live gesehen und da haben sie auch ordentlich gewirbelwindt, gaben sich wie zu erwarten supersympathisch, weil sie es ja auch sind. Was mir außerdem gut gefällt, bedient gar nicht mal so sehr die Postpunk-Schublade, ich würds schlicht Rocknroll nennen.


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Gregors Nr. 5:
Peggy Gou – I Hear You
(XL Recordings)

Gekonnt überproduziert ­– siehe Platz 10 – ist auch das Album „I Hear You” von Peggy Gou. Hüpfburgenmusik mit Riesenrutsche, aufblasbarem Trampolin und Bällebad. Die perfekte Musik zum Toben, Rennen, Klettern, Rutschen, Springen und, ähm: Tanzen? Natürlich! Outdoor und bei strahlendem Balearenblau. Vielleicht noch ein paar Tatsachen zur Einordnung: Peggy Gou (eigentlich Min-ji Kim) stammt aus Südkorea, ist Musikproduzentin, DJ, Modedesignerin und lebt in Berlin.

Es gibt Leute, die behaupten, sie sei vielleicht eine der beliebtesten DJs weltweit. Vielleicht. Bekannt ist sie allemal (seit kurzem auch mir). Nach zahlreichen Singles, einer Übersingle – (It Goes Like) Nanana – und diversen EPs erschien im Juni nun endlich ihr Debütalbum. „Nanana“ ist zwar der zentrale Track und mit 660 Millionen Plays weit außerhalb meiner üblichen Wahrnehmung, aber alles drumherum ist trotz des Gefälles feinster Hungboo, um in der Sprache von Gou zu bleiben, toller, pumpender Vintage-90s-House, der von einer starkern künstlerischen Handschrift geprägt ist. Sie selbst sagt sinnigerweise K-House dazu.


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Rolands Nr. 5:
Fink – Beauty In Your Wake
(R‘CCOUP‘D)

Manchmal bin ich ganz schön oberflächlich. Das Plattencover jedenfalls hat mich fast davon abgehalten, überhaupt reinzuhören, weil: sieht Finian Paul Grenall, der als Fink firmiert (nicht mit der deutschen Band verwechseln), nicht aus wie jemand, der einem bei grünen Tee ostasiatische Philosophie und Mediation nahebringen will? Alles Dinge übrigens, die ich auch schätze und praktiziere, aber darum geht es doch gar nicht!

Beim Ersthören blieben die Vorbehalte, weil: so wirklich raffiniert ist das nicht, oder, halt Akustikgitarren und Gesang. Nur habe ich es dann doch öfter gehört als gedacht und jetzt liegt das Album plötzlich weit vorne in meinen Charts.

Wie so bei jedem Lied die Akkordfolgen monoton kreisend gespielt werden, um darüber Intensität aufzubauen, da steckt doch bestimmt irgendsoeine Meditationstechnik hinter?


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Gregors Nr. 4:
Idles – Tangk
(Partisan Records)

Brexit hin oder her: Dass ein Album wie „Tangk“ auf Platz eins der britischen Albumcharts landet, muss den Engländern erst mal jemand nachmachen (selbst die Fontaines D.C. schafften nur Platz 2). Es ist also doch nicht alles misérable auf der Insel, die Idles schon mal gar nicht und „Tangk“ noch viel weniger. Das Wilde, Rohe und Kraftvolle, das die Rebellanten aus Bristol bisher auszeichnete, setzt sich hier zwar nicht konsequent fort, dafür geht es jetzt ausgefeilter und zugänglicher zur Sache. Tangk ist aber noch lange kein reines Schönwetteralbum geworden, bei dem die Wetterfühligen „Sunshine Guilt“ verspüren.

Das Gesellschaftskritische ihrer Texte fiel zwar dem Wort „Liebe“ zum Opfer (das Wort kommt auf dem knapp 40-minütigen Album insgesamt 29 Mal vor), aber sind wir mal ehrlich: Ist heute nicht alles Gefühl, also Feeling, und die Idles lediglich Opfer eines gesellschaftlichen Wandels? Sorgen muss man sich nämlich nicht um die fünf Koryphäen des Postpunk. Während 95% der heute veröffentlichten Musik die Liebe als reine Gefühlsduselei verkauft (mit all dem dazugehörigen Ego-Weltschmerz), scheint es Sänger Joe Talbot mehr um den Wunsch nach einer besseren Welt zu gehen. Dieses Ziel wurde schon immer mit viel Liebe erreicht. Und außerdem geht es – zwar weniger direkt als auf den früheren Alben – weiterhin um soziale und politische Themen. Ein Crowd-Pleaser in vielerlei Hinsicht!


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Rolands Nr. 4:
Beth Gibbons – Lives Outgrown
(Domino)

Selten war’s bei mir so, dass schon nach wenigen Takten praktisch jedes Lied sich so eingebrannt hat, als wäre es schon immer da und hätte ich es schon immer gekannt. Was sicher auch an Beth Gibbons selbst liegt, die von sich aus gleich ihren eigenen Referenzraum und Bezugsrahmen mitbringt. Dennoch, ungefragt und uninteressant, weise immer immer gerne drauf hin, wenn mal die Rede auf Portishead kommt: war nie wirlich großer Fan.

Hier aber sofortiges Einrasten: Mit dem ganzen Perkussionbeiwerk und orchestralen Arrangements verfugen sich Stimme und Musik ganz außerordentlich und sind sofort als Einheit da. Mich wundert auch nicht, dass das Album zehn Jahre oder ähnlich in the making gebraucht haben soll. Also: Instantester Classic – wenn es je einen gab.

Die besten Alben 2024 – Plätze 10 bis 7

Wir sind wieder dabei, wir sind wieder im Game. Wir wissen, das Vergnügen liegt ganz auf unserer Seite, wir hoffen, es lesen trotzdem ein paar mit, wenn wir uns selbst erklären, warum unsere Lieblingsalben 2024 unsere Lieblingsalben 2024 sind.

Und hier sindse:

Gregors Nr. 10:
Magdalena Bay – Imaginal Disk
(Polydor / Universal)

Mica Tenenbaum und Matthew Lew sind Magdalena Bay. Ihre Musik: Ins Silberbad getauchte Top-40-Arrangements. Aus welchen Charts, lässt sich nicht genau sagen. Aber der Reihe nach. Fünf Jahre sind seit ihrem gefeierten Debüt „Mercurial World“ vergangen. Zuvor hatten die beiden bereits zusammengearbeitet, sowohl in ihrer Highschool-Progrock-Band Tabula Rosa als auch bei einer Reihe von EPs unter dem Namen Magdalena Bay. Die vergangenen fünf Jahre verbrachte man schließlich auf Tournee-Bühnen, ihrem Tik-Tok-Kanal und selbstverständlich im Studio.

In den Überlieferungen zu Magdalena Bays jüngstem Album ist die „Imaginal Disk“ ein CD-ähnliches Objekt, das als extraterrestrische Botschaft in das Gehirn eines Affen eingelegt wurde. Die Schöpfungsgeschichte beginnt hier mit einer Figur namens True. Eines Tages begibt sich True auf eine Reise, um herauszufinden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Diese Geschichte wurde in Musikvideos, die zusammen mit vielen Singles des Albums veröffentlicht wurden, ausgiebig entwickelt. Soweit, so Konzept. Das Album selbst sei ein musikalisches Handbuch zur Erforschung des Bewusstseins und die Videos lediglich schmuckes Beiwerk, so die Erklärung der beiden. Zum Glück hat man bei so viel Phantasma das Musikmachen nicht vergessen. „Imaginal Disk“ ist Avantgarde-Pop aus dem Oberstübchen – kunstvoll, eingängig, verwirrend, komplex und gekonnt überproduziert. Songs, die in völlig unterschiedlichen Welten beginnen und enden, oft sogar in unterschiedlichen Genres. Passt irgendwie, dass die beiden in Miami leben.

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Rolands Nr. 10:
Myriam Gendron – Mayday
(Chivi Chivi)

Retro wie das Cover die Musik. Klingt nicht nur nach frühem Dylan, sondern tatsächlich melodisch ganz „grundsätzlich“ und oft nach Volkslied. Ist es dann nicht selten auch, Myriam Gendron hat dafür entsprechende Weisen aus ihrer frankokanadischen Heimat aufgegriffen, aber natürlich auch verwandelt und mit Zeitigem angereichert, dann kommt etwa Vogelzwitscher bis Freejazz Saxophon dazu. Wer’s liest und abgeschreckt ist: don’t, klingt nämlich tatsächlich durchgängig wunderschön.

Das macht nicht zuletzt die sonore, tiefe Stimme. Hie und da auf französisch singen hilft sicher auch, bei meinen Ohren jedenfalls. Gendron, so las ich, hat eine Zeitlang in Paris als Straßenmusikerin sich durchgeschlagen, ging zurück nach Montreal, arbeitete dann lange als Buchhändlerin, auch als sie schon Musik veröffentlichte und steigt jetzt erst, mit ihrem dritten Album, Vollzeit ein ins Musikgeschäft. Möge sie uns lange erhalten bleiben.

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Gregors Nr. 9:
Les Amazones D’Afrique – Musow Danse
(Real World Records)

“Musow Danse” ist das dritte Studioalbum des west- und zentralafrikanischen Superkollektivs Les Amazones d’Afrique. 2014 von den Malierinnen Mamani Keïta, Mariam Doumbia und Oumou Sangaré gegründet, um der Ungleichbehandlung der Geschlechter entgegenzuwirken und ihr eine feministische Stimme zu verleihen, entwickelt sich das Kollektiv seither ständig weiter. Musik aus 1000 Jahren, Tönen und Schattierungen.

Und ja, dieses scheinbar ständige Durchwechseln der Besetzung ist für sich genommen schon spannend genug. Von 2014 ist nur Mamani Keïta übriggeblieben. Neu an Bord sind Fafa Ruffino aus Benin, Kandy Guira aus Burkina Faso, Dobet Gnahoré von der Elfenbeinküste und Alvie Bitemo aus der Demokratischen Republik Kongo. Da kommen einige Sprachen und Dialekte zusammen. In dem Song „Queen Kuruma“ beispielsweise singt Fafa Ruffino in vier verschiedenen afrikanischen Sprachen (Fon, Bariba, Dendi und Yoruba), Alvie Bitemo kommt auf drei (Doondo, Lingala und Kinyarwanda) – auf „Musow Danse“ wird in einer Vielzahl von Sprachen gesungen, die in Westafrika verbreitet sind – am Ende  des Albums angekommen sollten dann praktisch alle ihre Mission verstanden haben. Und alle, die nicht von dort kommen, lesen sich bitte die englische Übersetzung auf Bandcamp durch.

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Rolands Nr. 9:
Tristan Arp – a pool, a portal
(Wisdom Teeth)

Ich gehe jetzt mal davon aus, Tristan Arp, von dem ich praktisch nichts weiß, hat sich seinen Nachnamen fürs Kunstmachen zugelegt und dann nicht umsonst vermutlich nach dem Universalkünstler Hans / Jean Arp benannt, der auch einer meiner ganz großen Helden ist. Und Tristan macht eben offenbar auch vieles auf vielen Kanälen: Malen, Aufnehmen, Sound- und VideoIínstallationen usw. usf.

Das Album wuirde mir eher zufällig zugespült und ist eindeutig eine Wasserplatte, wie auch schon der treffende Titel verrät. Es schwappt, tröpfelt und plätschert aus allen Ritzen, Musik aus der Therme, zum Warmwasserzurücklehnen, berieseln und durchfluten lassen.

Es sind viele Becken, durch die man steigen darf, vom Sprudelbad bis zur Salzlake, die einen totesmeerartig trägt – will sagen: ausreichend Abwechslung bei allem Soundeindeutigem ist immer gegeben.

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Gregors Nr. 8:
Michael Kiwanuka – Small Changes
(Polydor / Universal)

Mollig warm soll sie sein, die Winterjacke, vor Wind und Regen schützen und jedem Unwetter trotzen. So wie wahrscheinlich Kiwanukas neues Album „Small Changes“. Ist das belanglos? Ist das Einlullerei mit gelegentlichem Aufseufzen, wenn doch mal ein Tropfen durch die Epidermis dringt? Ich bin noch unentschlossen. „Kinwanuka“ wurde schnell zum Klassiker. Auch für mich. Fünf Jahre sind seit dem legendären Album-Release vergangen und zu meiner großen Überraschung habe ich für „Small Changes“ sogar die Countdown-Funktion von Spotify bemüht.

Das lag wohl auch am Druck in der Luft. Das Soul-Monster, das alle erwartet haben, ist es letztlich nicht geworden. Kiwanuka lässt die Sounds diesmal ruhen, spricht mehr aus dem Herzen. In gewisser Weise steht ihm das als frischgebackener Familienvater auch zu. Das Zubettbringen gelingt leichter, wenn es als beruhigend erlebt wird. Das geht zwar auf Kosten der Hits und Banger – erst mal. Kiwanuka ist jetzt 37 und die Lebenserwartung seiner Generation steigt. The future is unpredictable.

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Rolands Nr. 8:
Haley Heynderickx – Seed of a Seed
(Mama Bird)

Wie Ihr seht und hören werdet, gibt es dieses Jahr bei mir eher wenig ganz neue, umwälzende, andersartige Sounds bei den Alben, dafür mehr Ruhiges, Harmonisches, Vertrautes. Am deutlichsten vielleicht bei diesem Album, das sich thematisch rund um allerlei Gartenmetaphorik sanft gitarrierend hinrankt. Küchenpsychologisch, aber tatsächlich naheliegend: es steht zu vermuten, dass ich gerade eskapistische, unkomplizierte, warme Musik suche. Und warum auch nicht, angesichts des tösenden Drumherums, muss ich wohl nicht weiter erklären. Nächstes Jahr wird mir dann wahrscheinlich sogar Gesang zu anstrengend sein.

Hier aber noch nicht, Zartbesaitete wie ich werden’s also mögen.

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Gregors Nr. 7:
Amyl and the Sniffers – Cartoon Darkness
(Rough Trade)

Album Nummer 3, das erste von ihnen, das ich mir angehört habe. Vorher kannte ich nur ihren Live-Mitschnitt auf KEXP von 2021 und ein paar Singles, die nur einen Schluss erlaubten: Mullumbimby, jene etwa 4.300 Einwohner zählende Stadt am Fuße des australischen Mount Chincogan, ist für lärmende Gitarren und rotzigen Gesang scheinbar die Nabelschnur zur Welt. Ja, „Cartoon Darkness“ ist die beste Punkrock-Platte des Jahres und sie stammt von Leuten aus Mullumbimby, das sei hier schon mal verraten. Mehr noch als die Band selbst interessiert mich das Umfeld, in dem ihre Musik gedeihen konnte. Auf den Bildern des Städtchens spürt man sie förmlich, die gelebte Utopie. Mullumbimby ist nämlich ­– wenn überhaupt – bekannt für seine Hippie-Subkultur und seine florierende Musikszene.

What? Das passt ja überhaupt nicht zum stereotypen Leute-vom-Land-Klischee. Hier will man sofort hin. Dass dieses Umfeld natürlich großen Einfluss auf Amy Taylor hatte ­­– den Kopf der Band – ist klar. Sie erklärt dann auch gerne, dass Hippies, Bauern und „Bogans“ – Typen, die viel fluchen und Bier trinken – ihren Kampfgesang enorm geprägt haben. Wahrscheinlich in Form und Inhalt. Klingt alles sehr spannend. Working-Class-Slang, Selbstermächtigung und Feminismus ­– alles Teil Ihres Selbstverständnisses. Kritisch besungen werden auch der digitale Konsum, Hass im Internet und der ganze 20-Something-Mist. Spaß macht’s btw trotzdem.

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Rolands Nr. 7:
Zoot Woman – Maxidrama
(ZWR)

Was für eine schöne Rückkehr. Einfach, ganz einfach, dafür aber äußerst effektvoll. Was ich erst mit diesem Album begriffen habe, Zoot Woman sind die Elektro-Phoenix, die gleiche Unbeschwertheit, die gleiche Harmoniesucht, der ganz ähnliche Gesang, es werden halt wirklich nur die Synthie-Regler mehr reingedreht, die brummen, dröhnen und sausen als wären sie nie weg gewesen. Waren sie ja auch nicht, mir ist eben nur melodischer Elektropop in Reinform länger nicht mehr untergekommen und wirkt dann einfach freudig stimmungsaufhellend.

Das Ausrufezeichen ist hier also nicht umsonst gesetzt, für gesetzte Herrschaften wie mich selbst hat es auch die Tanzhärte, die noch meine müden Knochen aufbringen können.