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Musik

Gary Wilson & andere

Whomadewho Munk, Headman, Mocky, Kamerakino, The Rammellzee, Hiltmeyer Inc.: So langsam mausert sich das Münchner Label Gomma mit ein bisschen gutem Willen zu dem gegenwärtig besten Label dieses Planeten. Und jetzt Whomadewho – eine dänische Rockgang, Tomas Hà¸ffding, Jeppe Kjellberg und Tomas Barfod, die unter ihren Kutten Glam, Disko und FunkPunk tragen. Hinzu kommen in geringen Mengen Folk, Country, Kuhglocke und Repetitives in jedweder Form. Scissor Sisters, The Rapture, die komplette Gomma-Posse und weiter hinten ESG, Bowie, P.I.L. und von mir aus auch Gang of Four haben es vorgemacht, jetzt sind Whomadewho an der Reihe. Sehr unaufgeregt, manchmal sogar nachdenklich, was da aus den Lautsprechern tönt. Immerzu einen Zentimeter vor dem großen Wumms, diesen ganz großen Momenten. Und das Namedropping lässt schon vermuten: Sehr abwechslungsreiches Album, das Whomadewho da veröffentlicht haben. Damit läuten sie die wahrscheinlich letzte Runde des großen Diskorock-Revivals ein. Mitnehmen!

Supersystem Supersystem’s Debüt »Always never again« ist in diesem Zusammenhang auch eine Erwähnung wert. Gerade die beiden Tracks »Miracle« und Tragedy sind großartig. Gitarrist Rafael Cohen hat seinen alten Bandnamen El Guapo an den Nagel gehängt, um sich musikalisch neu platzieren zu können. Zwar hört man ihnen ihre Dischord-Vergangenheit an, erkennbare Anknüpfungspunkte finden sich allerdings mit Chk Chk Chk und Enon auf ihrem neuen Label Touch & Go. Supersystem ist so ein typisches NY-Ding: trampolinartiges Rhythmusgebashe, krude Durchmischung von Disko und Rock, ffwd gespielt, zu jeder Zeit treibend und immer ein bisschen Indie. Kein ganz großes Album, dafür hat’s aber auf »Always never again« einige echte Hits. Sehr Radio, das alles.

Gary Wilson Ebenso wie die Songs von Gary Wilson, obwohl »Groovy Girls Make Love At The Beach« wenig mit Supersystem zu tun hat. 27 Jahre liegen zwischen dem Debütalbum »You Think You Really Know Me« (Eigenvertrieb/1977), das gerade 600 Mal gepresst wurde und trotzdem oder gerade deshalb Kultstatus genießt, und dem Nachfolger »Mary Had Brown Hair« (Stones Throw/2004). Zwischenzeitlich war Mr. Wilson sogar für ein paar Jahre komplett verschollen, woran selbst die Ermittlung eines Privatdetektivs nichts ändern konnte. Wahrscheinlich hätten wir auch nie mehr etwas von ihm zu hören bekommen, wären da nicht die vielen prominenten Fans gewesen, die ihm ordentlich Rückenwind verschafft haben. Die Musik Wilsons ist ein sonniges Gemisch aus Prince und Shuggie Otis, nicht ganz so viel Funk und kaum Psychedelic, dafür aber Pop, Jazz und Avantgarde. Viel Farfisa. Wiederentdeckung des Jahres!

Sendung vom 13.10.05 – Radio X
Supersystem — Miracle (Touch & Go)
Supersystem — Tragedy (Touch & Go)
Whomadewho — Satisfaction (Gomma)
Whomadewho — Space for rent (Gomma)
Headman — Upstart (Gomma)
Soulwax — NY Excuse [Tiga Mix] ([Pias])
Jackson And His Computer Band — Rock On (Warp)
Gary Wilson – Groovy Girls Make Love at the Beach (Stones Throw)
Skyrider — Masters of deception (Endemik)
The Magic Numbers — This love (EMI/Capitol)
The Dead 60s — Riot Radio (Sony/BMG)

Latentamt

Ich mag Großbritannien, ich mag auch die Briten, Kreidehaut und Sommersprossen, ihr Assogetue, Spaßprügeln, Hardcore-Pubismus und die Kreativität ihrer Subkulturen nebst Nähe zur Allgemeinheit. Mittlerweile kann ich sogar ihrem blöden Abweichlertum ein bisschen was abgewinnen – diese Inselaffen. Und das alles nur, weil sie wissen, wie man Musik macht. Art Brut, Kaiser Chiefs, Hard-Fi, The Rakes, The Dead 60s, Maximo Park, The Subways: Kann echt behaupten, dass ich dank der Musik dieser Bands einige schöne Augenblicke hatte, obgleich sich ihr subversives Potential dieser Tage Richtung Null bewegt. Immerhin: Eine Überwachungskamera als Covermotiv hat selbst den dümmsten Engländer endlich darauf gebracht, dass der Überwachungswahn der englischen Regierung orwellsches Ausmaß angenommen hat. Interessanter Meinungsbildungsprozess, den man da beobachten konnte. Mit dieser bescheidenen Ausbeute ist neun Jahre nach »Mainstream der Minderheiten« das vollendet worden, worauf Holert/Terkessidis damals hingewiesen haben: die Kampfbegriffe gegen das Establishment sind im Pop-England des Jahres 2005 komplett verschwunden zugunsten der Parole »We like success«. Und das ist neu: Es ist nicht mehr nur die Unterhaltungsindustrie, die diese Geschäftsgrundlage kultiviert hat. Diesmal wurden die entscheidenden Impulse von den Musikern gesetzt. Das muss man all diesen tollen Bands ankreiden, verübeln kann man es ihnen allerdings nicht. That’s what the English call Zeitgeist.
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Dial-a-beat

Yo Homeboy! What we’re gonna do right here is go back. Way back. Back into time… Als man das Jahr 1985 schrieb, war Rich Colour noch ein kleiner Junge und die British Telecom hatte eine Service-Hotline, bei der man sich einen 4-minütigen Hip-Hop-Beat am Telefon anhören konnte. Im Jahr 2005 ist es selbstverständlich, dass man seine Musik per Telefonkabel bezieht. Nur heißt das Format jetzt Mp3 und nicht mehr MC. Das weiß auch Rich Colour, und deshalb hat der Gute mit viel Liebe seine Mixtapes aus den 80ern digitalisiert und ist bereit, sie zu teilen. Also klemmt euch ans Telefon und nehmt ein Bad voller Nostalgie. Oh, the warm feeling…

(via Rappcats)

Septemberplatten 2005

Plattenseptember 2005 mit Sigur Rós, Finn und Audio BullysTreue Fans der Gruppe werden mir wahrscheinlich nicht zustimmen, aber Sigur Rós haben mit Takk (EMI) ihr bisher bestes Album gemacht. (Kann man sich übrigens hier anhören). Ihre Musik hat immer noch als wesentliche Elemente: hochgezwitscherte Sängersstimme auf zerdehnter Gitarre. In der Vergangenheit war’s das dann aber oft. – Stücke, lang wie in „Langeweile“, zu hauchdünnem Teig ausgerollt fürs ambiente Wohlgefühl.

Auf Takk sind die Tracks zwar immer noch kaum unter sechs Minuten, es kommen aber ein paar entscheidende Zuckerln hinzu. Zum einen wird der Sound durch jede Menge Klingklang aus Glöckchen und sonstigem Tand (hübschkitschigen Streichern zum Beispiel) angereichert und aufgehellt. Zum anderen, und wichtiger: es gilt nicht mehr die reine Zeitlupe. Vielmehr spielt innerhalb der Stücke jetzt Rhythmik wirklich eine Rolle und sie erhalten erzählerische Struktur. Songs, die immer noch hochpathetisch und schön sind, aber (endlich) mit Songcharakter. Takk (isländ. „Danke“) dafür.

Auf einer genealogischen Karte musikalischer Verwandschaftsgrade wären Finn und Sigur Rós nahe beieinander, Cousins mindestens. Das Kindchenschema-Cover seines zweiten Albums The Ayes will have it (Sunday Service) gibt schon einen Hinweis, wohin es geht: Rekursion auf verschüttete Zubettgeh-Gefühle, Halbschlafschönheiten. Was eine gewisse Manipulationskunst voraussetzt. Und die hat er drauf, der Finn. Man weiß, wie’s funktioniert, aber kann gar nicht gegen an – will es dann ja auch gar nicht.

Zum Schluss was ganz anderes: Das Kick-Arsch-Ding Generation (EMI) der Audio Bullys, deren Musik gerne unter „Hooligan House“ abgebucht wird, zeigt einmal mehr, dass noch jede britische Angeblich-Prollerei (siehe auch: The Streets, Goldie Lookin Chain) in Wahrheit schlicht auf Qualität beruht. Will Dich mitreißen und sonst nix, denn beim Tanzen hat Denken erstmal Sendepause, Alter. Das Album, das die Chemical Brothers dieses Jahr gerne gebracht hätten, aber nicht konnten.

Radiotipp: Seà±or Coconut u.m.

Machtdose heute: kulturelle Hybridität am Beispiel Reggaeton, Funk Carioca und Cumbia Villera – im Interview: Uwe Schmidt aka Seà±or Coconut (Ex-Ffm, Santiago de Chile). Weiterführender Link: Baile Funk – HipHop und Rap zum Draufschlagen

CD-Tipp: Coconut FM – Legendara Latin Club Tunes (Essay Rec. ab 19.9.)
Buchtipp: Hype um Hybridität, Transkript Cultural Studies 11, Kien Nghi Ha (2005)

Mix for free: Funk Carioca von Diplo (Produzent von M.I.A.): Favela On Blast

Machtdose – 15.09.2005 – 19-20 Uhr – Radio X – 91,8 FM

Matthew Herbert – Plat du jour

Matthew Herbert - Plat du jour Kennt eigentlich schon jeder die neue (7/2005) Platte von Matthew Herbert? Plat du jour heißt sie, Food Sounds enthält sie, eingespielt von dem wahrscheinlich größten Orchester der Welt: 24.000 Küken hat’s da drauf, Neugeborene, die kurz vor den Aufnahmen zur Welt gekommen sind. Das ist aber noch längst nicht alles. 30.000 werdende Brathähnchen und 40 glückliche Freilandhühner tragen ebenfalls ihren Teil zum Gelingen von »The life of a modern industrialised chicken« bei. Natürlich erschließt sich nur schwer, wer und was da wie klingt. Deshalb ist es ratsam, die Gebrauchsanweisung zu studieren, die Matthew Herbert dem Audiomaterial beigelegt hat. Dort erfahren wir, dass eins der glücklichen Hühner während seiner Field Recordings um’s Leben gekommen ist, getötet, um im Warenkorb eines Wochenmarktes zu landen. Die Percussion-Sektion (Leo Taylor) verarbeitet in diesem Track gängige Verpackungsmaterialien: Eierkartons, Eierbecher und die Schalen von 12 Bio-Eiern bilden die Grundlage für den Rhythmus des Tracks, die Schlegel der »Drums« werden durch Essstäbchen ersetzt. Und die Bassline ist das Piepsen eines runtergepitchten Kükens. Ein Narr, wer glaubt, dass hätte keinen Groove (was nicht für jedes Lied auf dem Album gilt).
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The Chicago Tapes Project

Im Chicago Tapes Project werden gleich zwei Dinge miteinander vereint, für die wir hier eine gewisse Leidenschaft hegen: Das rechts zu sehenden Logo taucht als Stencil in den Straßen von Chicago auf. Damit werden sog. „Tape Stations“ markiert. Folgt man nämlich dem Pfeil, findet man dann dort jeweils ein Mixtape, dass man gegen sein eigenes austauscht und so eine Art Tapecrossing auslöst. Würde mich ja interessieren, wie gut das klappt. Jedenfalls: Lasst die Straßen tönen! Oder so.