Nach den Alben nun also unsere liebsten Lieder des Jahres. Es sind bei drei Juroren à 15 Nennungen (10 sind da einfach zu wenig!) demnach nicht weniger als 45 Tracks geworden – und damit genau drei Stunden.
Aus unser dreier Gesamtsicht, nach gegenseitigem Vorspielen, Vergleichen und Spintisieren sind wir uns tatsächlich einig: nicht eines dabei, das nicht taugte. Und nochmal ein paar Extraentdeckungen für uns alle.
Gibts als wohl abgestimmte Playlist sowohl bei Spotify als auch Youtube zum Mithören.
Hoffentlich habt Ihr ähnlichen Spaß damit wie wir beim Zusammentragen.
Edit: über Malte haben wir das Ganze auch noch als Apple-Playlist bekommen und also hier angefügt.
Carstens Nr. 1: GHOSTWOMAN – Hindsight is 50/50 (Full Time Hobby)
Es ist ungefähr 22 Uhr, als ich von zuhause losgehe. Ich gehe nur langsam, damit ich in meinen Stiefeletten (alt. Creeps, Docs) nicht auf dem nassen Pflaster ausrutsche. Es ist neblig (alt. rauchig, kalt), auch weil die Fenster der Straßenbahn (alt. Bus, Stretchlimo) beschlagen sind. Ich starte den Walkman (alt. iPod, Smartphone) und starre vor mich hin. Hallende Beats, dröhnende Gitarre. Mein Herzschlag wird schneller. Aussteigen, noch ein paar Schritte (alt. eine halbe Stunde) Fußweg. Allein (alt. rauchend allein, mit einem schweigenden Freund). Es ist kalt in der Warteschlange. Keiner spricht. Nieselregen läuft in den Kragen meiner Donkeyjacke (alt. Bikerjacke, Harrington). Ich fange den Blick einer bleichen Schönheit ein. Sie (alt. er, them) lächelt nicht. Aber wir gehen Seite an Seite in den Club. Nebel bis unter die Decke. Strobo. Qualm. Nur Schatten.
Als ich die Kopfhörer abnehme (alt. rauspule), hämmert das Schlagzeug von Ille van Dessel los. Sie ist die Geisterfrau, vermutlich, die Evan Uschenko, dem Multiinstrumentalisten und produktiven Retro-Langweiler vor wenigen Monaten begegnet ist, und sein musikalisches Hipstersystem durcheinander gewirbelt hat – und den Klang von Ghostwoman drastisch verändert. Uschenko möchte von seinen alten Platten jetzt nichts mehr wissen, sagt er. Er habe seinen Sound endgültig gefunden, sagt er.
Der Spirit und die Coolness seiner Partnerin haben eingeschlagen wie eine religiöse Erleuchtung.
Das Album schreiben die beiden in wenigen Wochen und nehmen es in wenigen Tagen auf. Es ist kompakt, klar, stilistisch konsistent. Hypnotisch AF. Und völlig fertig geformt. Da fehlt nichts mehr. Dunkler Garagenrock, der dürr ist, laut und cool. UK-Postpunk trifft auf, sagen wir, Dead Moon und Velvet Underground. Mehr Sexyness geht nicht.
Man atmet feuchte Kellerluft und Nebelmaschine. Und wäre sehr gerne jetzt noch einmal 28, den richtigen Fummel am Leib und die Ahnung einer ätherischen Liebe (alt. Versuchung, Inspiration) im Kopf, die irgendwo in Berlin (alt. London, L.A.) aus dem Nebel steigt um einem das Leben umzukrempeln. Und einen morgens mitnimmt, in das Recordingstudio im zerfallenen Chateau: „Take a little walk with me.“
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Rolands Nr. 1: Joanna Sternberg – I’ve Got Me (Fat Possum)
Das Cover, selbstgemalt, wie aus einem pädagogischen Comic der Mitte 1970er – oder doch nicht, wenn man genauer hinsieht und einige heutige Utensilien darauf entdeckt. So ungefähr ist das auch mit der Musik auf diesem Debütalbum: hätte mir jemand gesagt, das seien alles interpretierte Traditionals, ich hätt’s erstmal geglaubt – würden dann nicht doch aktueller anmutendende Liebesdiskurse und Selbstkonzepte besungen.
Joanna Sternberg ist eine Manhattaner Komplettpflanze, dort geboren, dort geblieben, aus einer Familie stammend, die über mehrere Generationen professionelle Musiker*innen aufweist. Und eben: Songstrukturen, Melodien, Reimschema, alles ist klassischstes Singersongwritertum, ohne dass es in öde Retroproduziertheit reinläuft, für mich jedenfalls, und ohne Übertreibung an ganz große Namen wie Carole King, Joni Mitchell, Randy Newman denken lässt. Die markante Stimme selbst dann an eine andere Joanna, Newsom, nämlich.
Musikalische Souveränität trifft hier im übrigen auf kaum verborgene Vulnerabilität – und das ist ja immer ein Triumph (Ich erwähne das ausdrücklich nur, weil Sternberg selbst darauf immer wieder zu Sprechen kommt, nicht zuletzt in ihren Lyrics, die gar nicht anders als autobiographisch sein können, im übrigen auch bei Verweis auf musikalischen Vorbilder wie Elliott Smith)
Empowernd – wie das seit geraumer Zeit heißt, richtigerweise.
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Gregors Nr. 1: Sufjan Stevens – Javelin (Asthmatic Kitty)
Die Weltrettung kann weitergehen, Sufjan Stevens hat ein neues Album veröffentlicht, der Soundtrack dazu steht. Vielleicht zieht er auch demnächst mal wieder als Wanderbarde um die Welt, um seine zwischen Optimismus und Pessimismus oszillierende Kultur des Unbehagens in den Hallen dieser Welt zu verbreiten. Vorher muss er allerdings noch ganz schnell gesund werden.
Man munkelt ja, er sei nach seiner Autoimmunerkrankung wieder auf dem Weg der Besserung. Zum Glück! Javelin ist vielleicht nicht sein bestes Album – das bleibt Illinois aus dem Jahr 2005 – aber sein neuer Output gehört mit Sicherheit zum Stärksten seiner 24 Jahre währenden Schaffenszeit. 21 Alben zählt Stevens Gesamtwerk inzwischen.
Mit der Veröffentlichung von Illinois hatte er damals verkündet, jedem der 50 US-amerikanischen Einzelstaaten ein eigenes Album zu widmen. Die Idee war zwar schnell begraben, geblieben ist aber die stille Hoffnung (seiner Fans), dass er bis zu seinem Lebensende wenigstens 50 Musikalben raushaut. Als Sufjan Stevens vor sehr langer Zeit noch auf dem College war und beim Rasenmähen auf dem Campus eine verletzte Krähe in der Nähe der Mensa fand, brachte er sie ins Biologielabor, um ihr das Leben zu retten. „Du tust dem Universum einen großen Gefallen“, erzählte ihm daraufhin jene Frau, die aus dem Tierheim zu Hilfe gerufen wurde. Das Ereignis bot ihm wohl einen gelungenen Rahmen für seine Prosagedichte und Songtexte und für lange Gespräche auf dem Dach der örtlichen Aspirin-Fabrik reichte es auch noch, wo er sich mit Sangria von Boone’s Farm betrank und über die Ordnung des Universums spekulierte. So viel Bedeutung, so wenig Zeit. Rette uns, Sufjan!
Carstens Nr. 3: Nation Of Language – Strange Disciple (PIAS)
Das Alter bringt schon so seine Überraschungen mit sich. Ausgerechnet Gregor, einer der Owner dieses Blogs, Nick Cave-Verehrer und in Formen alternativer Gitarrenanwendung bewandert, einigt sich dieses Jahr mit mir auf Nations Of Language. Die Brooklyn-Band, die vor 3 Jahren als sehr sehr eng an den Originalen orientiert mit schmucken Postpunk, Synthwave, Darkwave, und anderen „man kanns schon nicht mehr hören“-Pastiches auffiel.
Wie schon von Gregor beschrieben: So langsam schält sich hier eine echte Identität raus, es blitzt auch mal etwas Chartspop von OMD durch (Obwohl die mich auf ihrem letzten Album einmal mehr mit Leftfield-Pop überrascht haben. Hat aber nicht für diese Liste hier gereicht). Ich höre auch etwas Blancmange, aber sei es drum. Devaney, Noell und MacKay sind zu New Yorker Hipster-Darlings gereift. Im Video zu „Too Much, Enough“, einer pluckernden Popperle, von Kraftwerk-Arpeggios angetrieben, drängeln sich Jimmi Simpson, Adam Green und Kevin Morby um die begehrten Cameo-Plätze.
Auf „Strange Disciple“ tritt Devaney mehr als auf den Vorgängern aus dem Hallraum nach vorn, macht sich hör- und verwundbarer. Und damit auch den Weg frei vom Zitateindie zum tatsächlichen Pop, also Soft Cell, oder Depeche Mode der Vince Clark-Ära. Naja, etwas too much Wunschdenken vielleicht. Denn exzentrische Stimmen sind ja aus der Zeit gefallen. So denk ich mir den Rest Mut noch dazu und pfeife mit.
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Rolands Nr. 3: Baril – For You, Forever (Intercept)
So, hier geht jetzt keiner mit, nehme ich an. Nicht weil’s unzugänglich wäre, sondern das Gegenteil. Ja, Baril mag nur schmalen Kredit auf der Soundbank haben und auf vielen generischen Playlisten Platz finden – Genremusik halt (aber welches eigentlich – Chillhouse?), so gar nicht überraschend, baut dir ne KI easy nach und vor, so bissi hochgepitchte / gefilterte Vocals mit Sinnloszeilen, UK-Garage-Rappel-Beats ausm Setzkasten und Standardflächen.
Also genau das, was ich brauchte, offenbar, dieses Jahr: entspannt mich bestens, kann einfach immer laufen und lief und lief und lief, weil lässt mich happy Mitnicken und ausgeglichen werden. Das Album als Feelgoodserie, bei der du gerade kein anstrengenden Konflikte willst, sondern möglichst simple Stories und Figuren, genug zum Abschalten, Runterkommen, Wegdämmern. Hält die Seele clean!
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Gregors Nr. 3: Sofia Kourtesis – Madres (Ninja Tune)
Dass in der Medienlandschaft bisweilen noch Platz ist für junge Popkultur, zeigt der Fall der peruanischen Musikerin Sofia Kourtesis. Über ihre Albumveröffentlichung haben quasi alle berichtet, von Pitchfork bis Zeit, und es dürfte kaum jemand entgangen sein, dass der Charité-Chirurg Peter Vajkoczy einen Song auf dem Album gewidmet bekommen hat („Vajkoczy“). Er ist nicht nur bekennender Berghain-Fan, sondern auch Lebensretter von Kourtesis einstmals schwer erkrankter Mutter.
Die musikalische Spannbreite der in Berlin lebenden Musikerin bewegt sich irgendwo zwischen intimen Clubsounds, sonnigen Stränden und einer dröhnenden Demonstration in den Straßen von Lima. Ihre Gabe, vorgestrigen Tonschnipseln neues Leben einzuhauchen, gehört zu den großen Besonderheiten dieses Albums. Nirgendwo sonst wird das so deutlich wie in „Estación Esperanza“, in dem sie Field Recordings von einer Demo für LGBTQI+-Rechte mit Manu Chaos „Qué horas son, mi corazón?“ mischt. Die mantraartige Wiederholung der überhörten Hookline aus dem Jahr 2001 gehört auf jeden Fall zu den Höhepunkten des Albums. Und überhaupt: Auf den zehn Songs findet sich viel Politik, sie selbst ist Aktivistin. Auch wenn Club, Tanz und Politik seit Jahrzehnten miteinander verflochten sind, ist die Eindeutigkeit, mit der sie hier Position bezieht, immer noch die große Ausnahme. Mit fallender Tendenz.
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Carstens Nr. 2: Gaz Coombes – Turn The Car Around (Hot Fruit Recordings)
Manchmal, ganz selten mittlerweile, starte ich Songs und habe sofort feuchte Augen. So geschehen bei „Don’t Say It’s Over“. Cimbalom und Falsettchor, schwere Drums und Klavierfundament, darüber eine schmerzverzerrte Fuzzgitarre. Es reißt mich weg.
Kaum zu glauben, das ist Gaz Coombes. Ich sehe ihn noch mit French Cut und ironischer Cordhose mit dem Bonanzafahrrad durch die 90er Jahre fahren. Das war mit seiner Band Supergrass, Britpop war groß und der Dekade schien die Sonne aus dem Arsch. Dann kam das Leben.
Auf dem Cover seines vierten Solo-Albums sitzt er immer noch lässig, aber merklich geerdet auf dem fleckigen Teppich seines Heimstudios, die Jazzmaster in der Hand. Doch das ist nur Slackertum. Coombes ist zu einem der sichersten und tollsten Songschreiber Englands herangereift. Er bedient nicht nur sein Instrumentarium souverän. Er spielt mit der eigenen Geschichte, zitiert die Gesten und Hooks des Britpop – aber sie kratzen nervös, ein melancholischer Grundton zieht sich durch, die Aufgekratztheit ist einem durch und durch nüchternen Blick auf die Welt nach 2010 gewichen. „Long live the strange“ rotzt er ihr entgegen, „It’s the fate of the young ones/Shaking all the nightmares.“ Die Krise – vielleicht ersetzt sie Posen und Positionen ja wieder mit Songs, die Schauer über den Rücken jagen. Was war nochmal KI?
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Rolands Nr. 2: Róisín Murphy & DJ Koze – Hit Parade (Ninja Tune)
Also der Albenname haut für mich schon sehr hin. Zwei haben sich tatsächlich gefunden. Produktionsseitig hat sich das wohl über die Pandemiejahre im Remote-Pingpong hingezogen, scheint mir doch ne nette Abwechslung gewesen zu sein, klingt dafür gar nicht zerpuzzelt, sondern erstaunlich homogen, also wohl über die Zeit amalgamiert: Stimme, Samples, greift alles wunderbar ineinander, Humor sowieso.
Was Erfahrung doch so ausmacht. Vier Fäuste für ein Hitalbum. Kann man eigentlich nur sagen: viel Spaß damit!
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Gregors Nr. 2: bar italia – Tracey Denim (Matador)
Wer erinnert sich nicht gerne an die Zeit zurück, als die Plattenkritik noch das Maß aller Dinge war? In verdrehten Print-Artikel geheimen Botschaften herauslesen, die zu dem nächsten großen Ding führen? LOL, aber cool! Rückblickend betrachtet ist diese Form des Rezipierens vielleicht vergleichbar mit den Rätselheften vom Kiosk, nur viel lehrreicher (unnützes Wissen und so). Wir alle wissen, was danach passiert ist, so zirka 2018.
Auch wenn man den Musikjournalismus nicht gleich für tot erklären muss, das, was bis heute an den Printauslagen im Einzelhandel überlebt hat, ist nun mal nicht meins. Stattdessen Switchen, Swipen und Adden wir, was das Zeug hält, wenn es ums Auffinden interessanter Neuerscheinungen geht. Und der liebe Gott ist ein Algorithmus. Heißt aber auch: Nicht jede Vormerkung, die in meiner „Bibliothek“ landet, hör‘ ich mir dann auch geflissentlich an. Und damit zu bar italia, klein geschrieben, dem Hype der Stunde aus London, der sich kurioserweise in kaum einer Bestenliste findet (warum eigentlich?). Es hat einen Augenblick gedauert, bis es bei mir Klick gemacht hat (gemeint ist das oldschoolige Klicken aus dem Maschinenraum). Sodann aber richtig und hoch und runter und immer mehr. Zu den 100 Dingen, die man in seinem Leben getan haben muss, zählt zweifelsohne der Besuch von Rough Trade West in Ladbroke Grove, und zwar just in dem Augenblick, in dem der Store-Betreiber eine Platte auflegt, der alle im Laden erliegen. Die Platte könnte von bar italia sein.
Carstens Nr. 6: Young Fathers – Heavy Heavy (Ninja Tune)
Der letzte Song auf dem nun wirklich einzigartigen Debütalbum von Massive Attack hieß „The Hymn of The Big Wheel“, ein langsam pluckernder Grower, der sich aus der Bristoler Triphopigkeit langsam ins Hypnotische schraubt. Neneh Cherry kommt hinter der Bassbox hervor und stimmt in den Kehrvers ein: „The big wheel keeps on turning / On a simple line, day by day / The Earth spins on its axis / One man struggles while another relaxes” Ein später Entschlüsselungsmoment.
Auf dem vierten Album der schottischen Young Fathers aus der russgeschwärzten Hügelstadt Edinburgh gibt es auch so einen Titel. Gut, ist der vorletzte, aber ich lass mir jetzt die Analogie nicht versauen. Bei „Holy Moly“ entlädt sich all die Düsternis und Schwere der Welt in einem choralen Mantra: „Oh won’t you come over / Better grab your chance / With both hands if you want to / Before we’re damned / Let’s go beyond the edge / To another plain / So much more to gain”. Ganz beruhigend, dass am Ende alles gut werden kann. Auf allen Songs zuvor schichtet das Trio in Talking Headsesker Happening-Logik Layer um Layer, bricht mit Stilvorgaben und Songstrukturen, ist wild und dunkel und wütend. Aber auch mutig und irgendwie erlösend. Gute Väter sind so.
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Rolands Nr. 6: bdrmm – I Don’t Know (Rock Action)
Wie Carsten schon bei seiner 10 feststellte: Shoegaze kann mittlerweile vieles sein (Eigentlich erstaunlich für ein Genre, das wie kaum ein anderes auf eine einzige Platte zurückgeht). Hier haben wir die vorrangig optimistische, stellenweise fast schon poppige Jungvariante, mit Elektrospielzeug angefüllt, wo es passt, aber die Gitarren eiern dennoch schön, klar und laut.
Wohin das noch geht, mal schauen, schlimmstenfalls in Richtung Schuhstarr-Schlager, bestenfalls in dessen Madchester (stell ich mir geilo vor).
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Gregors Nr. 6: Nation Of Language – Strange Disciple (PIAS)
„Strange Disciple” ist das dritte Album der Brooklyn-Band Nation Of Language innerhalb der letzten vier Jahre. „Introduction, Presence“, ihr Debüt aus 2020, wurde noch mit dem Hochzeitsgeld finanziert, das Sänger Ian Devaney und die Frau an den Synthesizern, Aidan Noell, von ihren Hochzeitsgästen geschenkt bekommen haben. Devaney: „We still haven’t had a honeymoon but we have the first record”.
Hoppla! Das zweite Album wäre ohne Minijobs wohl auch nie entstanden. New York muss man sich eben auch leisten können, um es zu lieben. Beide Alben waren aber letztlich so erfolgreich, dass die Umstände, unter denen nun „Strange Disciple“ entstanden ist – sagen wir mal – mehr Raum ließ? Die Band bezieht sich neben Kraftwerk, Can und New Order gerne auf „Electricity“ von OMD. Alles richtig. Müsste man die Aufzählung noch um ein Instrument ergänzen, wäre der Mini Moog zu nennen. New Wave und Synth-Pop eben. Und nie besser als gut produziert („Perfect is the enemy of the good”). Man hört, das Ehepaar hätte seit kurzem nicht mehr so viel Zeit, mit ihrer Katze Loaf in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung in Prospect Lefferts Gardens abzuhängen. Erfolg hat nun mal seinen Preis und wer seine Flitterwochen opfert, um womöglich die ganze Welt zu bereisen, hat alles richtig gemacht. Demnächst auch in deiner Stadt!
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Carstens Nr. 5: JIM – Loves Makes Magic (Virious Charm Recordings)
Keine Ahnung, wieso ich bei JIM reingehört habe. Ich hatte einen ähnlichen Zufallsfund, als ich im Plattenladen der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, damals über ein Cover mit einer kitschigen Blumenmakrofotografie gestolpert bin. Doch während „Century Flowers“ von Shelleyan Orphan im Anschluss wenigstens von ein paar Eingeweihten gekannt wird, bin ich bei JIM immer noch recht allein auf weiter Flur. Nur in der Bestlist von Marcus „Bungalow Records“ Liesenfeld ist er auch aufgetaucht. Passt auch.
Ich hab das Cover auf Bandcamp gesehen. Rene Magritte meets Breughel. Und es hat mich so angeknipst wie einst Nick Drakes „Bryter Layter“ auf einem Flohmarkt in Paris. Und da ist auch schon das erste Fitzelchen, das man bei Jim Baron so aufspürt. Crosby, Stills und Nash auch. Und so ein wenig kalifornischen Blue Eyed Soul. Und dann aus dem Nichts noch so smoothe Westcoast-Beats.
Es ist ein wunderbares Album, durch und durch Songwritertum, nie zu bräsig oder verjammert, sondern gekonnt auf der Kante zwischen Sensibilität und Lässigkeit balancierend. Es muss schon seit Jahren quasi fertig im Kopf von Baron schlummern, der ansonsten in einem anderen Kontext zum Disco/Deephouse-Clan Crazy P. gehört. Völlig andere Welt. Hier ist er – vielleicht – bei sich, paart Melancholie mit Matureness und Rhythmus mit Gitarre. Es stimmt. Liebe kann zaubern.
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Rolands Nr. 5: Isolée – Resort Island (Resort Island)
Je nun, ich wusste, dass das passiert – ratet mal, von wem ich den Tipp bekam (auf meine Beschwerde hin, ich hätte dieses Jahr in Sachen Elektronik noch nichts Bezwingendes gehört). Tja, und seitdem dotze ich fröhlich mit. Isolées seit jeher vorhandenes Talent aus meiner Sicht ist: Sounds und Beats scheinen eigentlich nur halbfertig hingesetzt, daraus ergibt sich aber plötzlich der ganze Groove, das ist schon ein bisschen Zaubertrick.
Was eine schöne Spannung erzeugt: kommt einerseits sehr lässig daher, was zugleich sofortige Tanzenwollenenergie erzeugt.
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Gregors Nr. 5: James Holden – Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities (Border Community)
Eigentlich ist die Geschichte der elektronischen Musik im Großen und Ganzen erzählt und man könnte sich geruhsam mit den zigtausend Alben aus der Vergangenheit vergnügen und die Entdeckungsreise der nachwachsenden Generation überlassen. Alt ist das neue Neu. Ist natürlich zu einfach gedacht und hat wenig mit Lebenslust zu tun. Erfinderisch zeigt sich der 44-jährige Brite auf seinem vierten Longlayer also nur beim Albumtitel, der Sound selbst bleibt erkennbar selbstreferentiell und basiert im Wesentlichen auf den bekannten holdenschen Retrotexturen und seinem retrofuturistischem Ideenreichtum.
Das klingt dann nicht nur besonders schlau, sondern auch ziemlich ausgefallen. Als besonders gelungen empfinde ich, wie Holden quasi unentwegt auf Höhepunkte hinarbeitet, die dann einfach nicht kommen. Das ist grenzwertig verwirrend und genau daraus bezieht das Album seine spirituelle Kraft und Magie.
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Carstens Nr. 4: Unknown Mortal Orchestra – V (Jagjaguwar)
It’s in the blood. Ruban Nielson ist eine der Gallionsfiguren der Neo-Psychedelic-Welle in Australasien, neben Kevin Parkers Tame Impala und vielleicht noch den Spinnern von King Gizzard & the Lizard Wizard. Der Sound ist in dieser Region der Erde fest verwurzelt, wurde da eins von den Beatles und Grateful Dead losgetreten, und wird jetzt wieder zurück importiert. Ein fast traditioneller Vorgang.
Nielson, mit hawaiianischen Wurzeln ausgestattet, folgt diesem Pfad, und meldet sich aus seiner neuen Heimat Kalifornien zurück. Doch dieses – boah große Worte – White Album-hafte Doppelalbum ist nur an der Oberfläche eine trendige neue Manifestation von UMO. Unter der wie gewohnt perfekt lackierten und veredelten Oberfläche geht es depressiv zu. Nielsons ohnehin nicht ereignisarmes Liebesleben eskaliert und drückt, der Zustand der Welt geht unter die Haut.
Und das ist der große Unterschied zu den anderen Stylern der Genres: Hier wird viel von kulturellen Wurzeln gelebt, bahnen sich australasiatische Folklore und Popkultur immer wieder Schneisen im Psychopop-Dschungel, aber man bleibt hängen in der Introspektion und der persönlichen Not, die einen so nah und universell berührt, als käme sie von einem schwermütigen Nachbarn. Ich bin schwer beeindruckt und rechne mit noch besseren Metaphern, wenn die Vinylausgabe endlich unterm Weihnachtsbaum liegt, und ich noch mehr eintauchen kann.
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Rolands Nr. 4: James Holden – Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities (Border Community)
In Bezug aufs Albenküren hätte ich dieses Jahr vielleicht nicht mit Gregor auf dreitägige Wanderung gehen sollen, da haben wir natürlich auch ausgiebig über Musik geredet und so schon gemeinsame Favoriten herausgearbeitet – so dass wir also vielleicht deswegen auch mehr Gemeinsames zu nennen haben als in den Jahren zuvor…
James Holdens Album hatte ich zu dem Zeitpunkt schon nach erstem, oberflächlichem Hören als uninteressant weggelegt, nach Gregors vorsichtigem Veto aber auf der Rückfahrt unserer Tour, im ICE sitzend, nochmal auf die Playliste gebracht und da, im Abendlicht durch die hessische Hochebene rauschend dann doch noch meine Epiphanie gehabt: ziemlich großartiges Album.
Es ist schon auch als Trip zu hören, mir scheint, sehr bewusst organisch angebaut, es zirpt, flötet und sprotzelt, gibt mehr Wellen als strenge Takte – ich möchte sagen: fast schon eine heidnische Feier ( glücklicherweise aber ohne jede auch nur ansatzweisen religiösen Anklänge).
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Gregors Nr. 4: Róisín Murphy & DJ Koze – Hit Parade (Ninja Tune)
Róisín Marie Murphys Moloko-Phase ist mehr oder weniger spurlos an mir vorbeigegangen. Klar, „Sing it back“ ist ein Evergreen, aber um ehrlich zu sein: Verführung auf der Tanzfläche hört sich für mich anders an (oder etwas drastischer gesagt: ganz übel, dieser Song). Es hat also ein gutes Vierteljahrhundert gedauert, bis ich überhaupt bereit war, den Verführungskünsten der irischen Sängerin erliegen zu wollen. Genau genommen war das im Jahr 2021, als ich an „Róisín Machine“ geraten bin und bis heute glaube: House at its best auf Albumlänge. Kommt etwa so selten vor wie Hochwasser in Hamburg, sofern ich das beurteilen kann.
„Hit Parade” kann da vielleicht nicht mithalten, aber Murphy und Koze im Duett? Das klingt nicht nur auf dem Papier wie ein Dream Team. Was wohl passiert, wenn zwei Rezepte im gleichen Topf landen? Auf jeden Fall wird kein Eintopf draus. Selbst verkocht besteht „Hit Parade“ weiterhin aus zwei Tonspuren. Die eine ist für Murphy reserviert, die andere besteht aus dem unverwechselbaren Soundallerlei Kozes. Murphy hat sich dadurch einmal mehr neu erfunden und Koze, der Underground-Hüne mit Exzellenz-Prädikat, wird plötzlich ein Fall für den roten Teppich. Die gegenseitige Anerkennung aber, man spürt sie bis in die tiefsten Ebenen des Albums hinein.
2023 ist fast aufgebraucht, wir melden uns wieder zum Küren der Jahresbesten. Es freut uns ganz besonders, dieses Mal unseren langjährigen Herzensfreund Carsten mit dabei zu haben. Er wird, Ehre wem Ehre gebührt, die Platzierungen auch anführen. Schon jetzt zeigt sich, dass er wesentlich auskunftsfreudiger ist als wir zwei krummen, maulfaulen Birken. Was für eine Freude!
Carstens Nr. 10: Slowdive – Everything is alive (Dead Oceans)
Ich würde ja gerne behaupten, damals dabei gewesen zu sein. Aber als Slowdive 1993 „Souvlaki“ veröffentlicht haben, ihr unverständlicherweise wie ein Grillspieß benanntes zweites Album, da war mir „Wild Wood“ von Paul Weller irgendwie näher. Oder auch das Debüt von Björk. Eigentlich ging das fast allen so, denke ich. Das, was später Shoegaze hieß, war Anfang der 90er nur ein Nachklapp des vorherigen Jahrzehnts, und meiner Meinung nach damals schon von den Cocteau Twins abschließend erläutert. Auch der Chef des Slowdive-Labels Creation, Alan McGee, hat im selben Jahr das Hallpedal verschämt in Blisterfolie gepackt, und lieber eine Teenieband namens Oasis gesignt. Nun gut, hinterher verklärt sich das alles. Ich denke ja auch immer, ich wäre ein Mod gewesen.
Heute ist Shoegaze und das überlappende Dream Pop-Genre ein fester Bestandteil der Internet-Indie-Szene, aber neben einem Wust an soßig klingenden Homerecordings gibt es da nur wenige echte Highlights. Da kommt dem neuen Slowdive-Album eine ganz praktische Bedeutung zu. Jetzt gilt ihr Frühwerk als stilbildend, ja epochal. Und das führt bizarrerweise dazu, dass „Everything is alive“ heute viel erfolgreicher ist, als Slowdive es früher jemals waren. „30 years on, and their music just gets BETTER????“, schreibt jemand auf YouTube. Da habe ich ob der Wahrheit mal gekichert. Gibt bestimmt Poptheoretiker, die darüber nochmal sinnen wollen, und optional einen Bezug zu den Joy Division T-Shirts bei H&M herstellen.
Aber ich bin ja fürs Pragmatische: Das Album klingt so, wie Dream Pop laut Spotify heute klingen soll, ätherisch, mit mehr Waber- als Gitarrenfundament, schwebender Doppelgesang, Shimmer-Reverb, you get the idea. Sehr geschmackvoll und auch trickreich gemacht. Vor allem „kisses“ (natürlich klein geschrieben) ist eine Blaupause für die aktuelle playlistenkonforme Interpretation des Genres. Könnte alles etwas rotz- und noisiger sein, denke ich mir noch. Aber dann, beim 4. Durchlauf erinnere ich mich plötzlich überdeutlich, wie Slowdive damals total mein Leben verändert haben, 1993 mit „Souvlaki“ war das, und ihre Rückkehr jagt mir Schauer über den Rücken. Welch epochales Comeback. Vor allem für mich. Dem Shoegazer der ersten Stunde.
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Rolands Nr. 10: Melenas – Ahora (Trouble in Mind)
Meiner Erinnerung nach ein letztes Geschenk von Twitter, also per Empfehlungslink drauf gestoßen, bevor ich jene Müllgrube endgültig verließ. Scheint mir eine schöne Abschlusspointe, so ausgerechnet auf eine spanischsprachige Frauenband zu stoßen – weil das (dem Klischee nach) nicht dem Geschmack eines Muskfanboys entsprechen sollte, dem eines Musikfanboys aber schon. Melenas als spanische Stereolab zu verkaufen, ist vielleicht ein bisschen stark, aber in die Richtung geht es. Es schweineorgelt übers ganze Album hinweg, geht immer ordentlich geradeaus und ist zwar retro, aber keine langweilige 1:1-Reproduktion von Vorgängigem.
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Gregors Nr. 10: Arooj Aftab, Vijay Iyer & Shahzad Ismaily – Love in Exile (Verve)
Kontinentale Klanglandschaften aus Atem, Wummern und hypnotischen Klavierlinien. Dieses friedvolle Miteinander der verschiedensten Instrumente ist schon beachtlich, das harmonische Miteinander in jedem Ton spürbar. Ich wusste gar nicht, dass man beim Musizieren so viel Rücksicht aufeinander nehmen kann, also hörbar gestalteter Respekt. „Love in Exile” ist ein kleiner, großer Trip, für den man sich Zeit nehmen muss, sehr viel Zeit. Steht sehr im Widerspruch zu den konsumistischen Färbungen unserer Übermaß-Gesellschaft, gerade deshalb sollte man sich direkt einen Therapieplatz sichern.
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Carstens Nr. 9: CVC – Get Real (CVC Recordings)
So ein wenig der Schlachtruf der Indiepop-Szene 2023 ist das schon, „Get Real“. MGMT haben kurz vor Schluss noch einmal bei Oasis angedockt und das 90er-Songwriting entdeckt, und CVC aus Wales (Wales! Da wo Robbie Williams und Tom Jones herkommen! Und die Stereophonics!) feiern den gekonnten AOR-Rock von Fleetwood Mac („Knock Knock“), America und den amerikanischen Roots Rock („Woman of Mine“). So wie überhaupt Wales immer dick in the USA war. Natürlich immer mit einem schlauen Blick auf das, was im zeitgenössischen Indieradio machbar ist („Music Stuff“). Da nickt die Hipsterin gefällig, da freut sich der ergraute Radioredakteur.
Der klassische Adult Rock der Westküste, er ist nicht nur spießige Kulisse für Rockisten wie Thomas Gottschalk und Toto verehrende Bass-Spieler in ihrem Mancave, sondern auch eine ewige Inspiration für moderne Geschmacksübungen mit Bandmaschine und Harmoniegesang. Auf dem Album groovt und wohltönt es aus allen Ecken. Wer es ironisch finden muss, um es auszuhalten, von mir aus. Funktioniert aber auch in echt.
Was es vor allem aufgerauht charmant macht: Die – selbstverständlich Moustache tragenden – Waliser sind immer noch ungebügelt, die Studioaufnahmen etwa 1,2 Millionen Dollar billiger, und das nasale Gesundheitsbewusstsein viel größer als bei den Vorbildern damals in Sausalito und dem Laurel Canyon. Beim Satzgesang von Francesco Orsi und seinen Kumpanen ist die Haltung denn auch größer als die Perfektion. Keine Zitatesammlung also, sondern ein unaufdringlich geschichtsbewusstes und gut durchblutetes Rockrevival.
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Rolands Nr. 9: The Murder Capital – Gigi’s Recovery (Ada)
Die nächste gefeierte Dubliner Postpunkband, gab’s gefühlt die letzten Jahre jedes Jahr eine von. Ich springe trotzdem gern auf den Hypetrain, denn es wird eben ordentlich raufgewummst, der Schlagzeuger spielt mit den dicken Stöcken, Gitarren haben ausreichend Schmackes und Drive, dazu gibt’s glasklaren, croonernahen Gesang (bei etwas generischen Texten allerdings). Gute Mischung aus Druck und Melodie also – dürfte meiner Zielgruppenanalyse nach deshalb durchaus in die mittelgroßen Hallen führen. Würde ich mir tatsächlich selbst auch gerne live geben.
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Gregors Nr. 9: Wednesday – Rat Saw God (Dead Oceans)
Wie soll ich das jetzt in zwei Sätzen erklären? Dieser ganze 70er-, 80er- und 90er-Kram hat ja nie wirklich ein Ende gefunden, alle drei Musikjahrzehnte stehen letztlich für eine ganze Epoche, die so schnell nicht enden wird. Heißt im Fall von Wednesday: Die 90er sind mal mehr und mal weniger ständig und überall, auch in „Rat Saw God“. Klasse Album, das bereits fünfte Wednesday-Album in fünf Jahren von der Hinterland-Band aus Asheville, North Carolina. Im Kern geht es in den Songs um die Jugend von Sängerin Karly Hartzman und das man nicht unbedingt in der Großstadt wohnen muss, um im Alkoholrausch vor das Haus der Eltern zu kotzen. Es geht also auch um die eigene Jugend. Musikalisch passiert ebenfalls unfassbar viel Spannendes, von Pixies bis Country, von Screamo bis Fuzz alles dabei! Shout out loud!
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Carstens Nr. 8: Harp – Albion (Bella Union)
Zu den auffälligsten Bands der Nuller- und Zehnerjahre gehören für mich ja Midlake, die komplizierten Musikstudenten aus Denton, Texas. Auf dem von den Cocteau Twins Robin Guthrie und Simon Raymonde gegründeten Bella Union Label erschienen, wie so viele wichtige Künstler der Ära (Beachhouse, John Grant, Fleet Foxes). Mit zwei bezwingenden Alben („The Trials of Van Occupanther“, „The Courage of Others”), die den britischen Folk der 70er und die feinsinnige Eleganz von Lindsay Buckingham mit dem zarten Gesang von Tim Smith zu einem intimen, melancholischen Kosmos verbanden. Voller Naturlyrik und Introspektion. Und wahrscheinlich brutal anstrengenden Studiodiskussionen. Nerds eben. Und dann auch noch ausgebildete Jazzer. Klingt übel.
Tatsächlich kam es dann auch zum Beatles-Moment, und Smith verließ, sich selbst anklagend, den Rest der Band, nachdem er die Sessions des Nachfolgealbums unerträglich in die Länge gequatscht hatte. Eine Katastrophe. Midlake wandelten sich in der Zeit danach zu einer eher nur okayen Muckertruppe. Und Smith? Ich habe ihm 2013 auf Facebook geschrieben, seine Songs gepriesen, und, wie viele andere, ungeduldig um ein Soloalbum gebettelt. Schließlich hatte er schon eine Website mit dem vielversprechenden Bandnamen „Harp“ in die Welt gesetzt. Er hat mir geantwortet, war ganz sensibler und dankbarer Künstler, und eine Mailingliste angeführt, auf der er sich bei den Fans melde.
Hat er auch. So alle 2 Jahre. Kunst hier, Scheidung da, Geduld hier, Umzug und neue Heirat dort. Und dann, vor wenigen Monaten – 10(!)Jahre später: „Ich bin fertig.“ Ich habe fast geweint. Nein, nicht fast.
Und nun? Er macht da weiter, wo er aufgehört hat. Mit all der Mystik und Zartheit und ich war bei der ersten Single „I am the seed“ völlig entrückt. Allerdings hat er nun nach eigenem Bekunden die 80er entdeckt. Heißt, er lobpreist Baritongitarren mit Chorusdröhnerei und fummelt mit einem JX8P-Synthesizer rum. Und findet Faith toll. Das schwarzweißeste Cure-Album. Ist prinzipiell zu begrüßen, allerdings wird es, wenn er wie bei „Throne of Amber“, dann im Mittelaltermarkt-Cape durch den Nebelwald hetzt, auch ein wenig – lieber Tim, verzeih – albern. Es gibt eben Zeitgeistmomente, die lassen sich nicht in die Gegenwart holen. Doch sei es drum. Er ist wieder da. Und es ist ein Debüt. Vielleicht rüttelt sich dann bei der nächsten Platte 2031 alles wieder zurecht. Ich bleib dran, wir schreiben, Tim, gell?
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Rolands Nr. 8: Anthony Naples – orbs (ANS)
Ein Slowburner, gilt sowohl für die Musik selbst als auch für deren mähliche Wirkung. Ambientartiges, mit deutlichen Dubtechno-Einflüssen. Bewusste Zeitlupe gleich zu Anfang, die ersten schweren Basslinien setzen ein, alles irgendwie sehr erwachsen, ganz gemach und unspektakulär. Ein gutes Begleitalbum. Bei mir etwa im Einsatz gewesen auf nächtlichen Heimwegen durchs nasskalte Berlin – Asphaltpfützen, in denen Neonleuchten sich spiegeln, dürfte tatsächlich die ziemlich genaue visuelle Entsprechung hierfür sein – beschallte mich auch sehr gut während konzentrationsintensiver Arbeitstätigkeiten (weil: ausreichend eintönig und doch abwechslungsreich genug).
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Gregors Nr. 8: P.J. Harvey – I Inside the Old Year Dying (Partisan)
Und noch mal Coming-Of-Age. PJ Harveys zehntes Album basiert auf ihrem Gedichtband „Orlam“ von 2022. Darin wird die Geschichte eines neunjährigen Mädchens erzählt, die im kleinen Dorf Underwhelem im Westen Englands aufwächst und dort die Unschuld ihrer Kindheit hinter sich lässt. Harvey schrieb die Gedichte in einem alten Dorset-Dialekt, an den sie sich noch aus ihrer Jugendzeit erinnerte. “Voul village in a hag-ridden hollow. All ways to it winding, all roads to it narrow” – Underwhelem ist ein übler Ort der Gewalt und des Aberglaubens. Wen man wie ich Nick Cave für den größten lebenden Songwriter der Gegenwart hält, kommt man nicht umhin, in P.J. Harvey das weibliche Pendant zu erkennen. Polly ist eine betörende Erzählerin und eine meisterhafte Virtuosin, ihr Gespür für Geheimnisvolles im übergroßen Raum der Melodie unerreicht. Auf dem Album finden sich neben dem klassischem Instrumentarium jede Menge Field Recordings, die sie zum Teil von Sounddesignern zur Verfügung gestellt bekommen hat, die sie beim Komponieren von Theatermusik kennenlernte. Das muss man sich dann so vorstellen: „Kann ich Wind haben, der im November durch einen Stacheldrahtzaun bläst?“ Die Antwort: „Yeah, here you are!“
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Carstens Nr. 7: bar italia – Tracey Denim (Matador)
Tempo, Tempo. Wenn die Hype-Maschine Londons angesprungen ist, dann gilt es keine Zeit zu verlieren. Für gewöhnlich bleibt dann ein halbes Jahr, in dem sich entscheidet, ob Tüllrock oder Plateausandalen nun wirklich heiß, oder total peinlich sind. Bar Italia wissen das natürlich, und haben 2023 gleich zwei Alben rausgehauen. Das Letzte schon fast glamourös im Homestudio auf Mallorca. Wahrscheinlich um dem Druck zu entgehen. Aber während die im November erschienene Sammlung „The Twits“ versucht, es allen recht zu machen („Auch mal was Fetziges“, „Mehr von euch beiden im Duett“, „Mehr wie Velvet Underground klingen“), und dabei so ein wenig bemüht wirkt, hat „Tracey Denim“ dieses Problem noch nicht.
Karg und lakonisch blättern Nina Cristante, Sam Fenton und Jezmi Fehmi da durch dicke Ordner mit Copyshop-Flugblättern und verhuschten Schwarzweissbildern. Spröde und introspektive Songs. Klingeling-Gitarren, auch mal mit etwas Fuzz-Gesumme und ein Gesang, der nie mehr als 70% gibt. Einprägsame Hooks kommen eher da eher durch Zufall durch.
Hornbrillen-Postpunk, der gut abgehangene Referenzen von Stereolab bis Sonic Youth durchscheinen lässt. Breites Grinsen nonstop beim Hörer. Und trockener Slackerhumor auf der Bandseite: „yes i have eaten so many lemons yes I am so bitte”, heißt da ein Song, ein Perspektivwechsel auf Kate Nashs Boyfriend-Diss „Foundations“. Mainstream ist halt Mist. Bitte dringend dabei bleiben.
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Rolands Nr. 7: Yo La Tengo – This Stupid World (Matador)
Yo La Tengo eher Name als Erfahrung für mich. Klar, immer wieder mal drüber gestolpert, aber nie wirklich intensiv gehört. Ob das vorliegende Album nun ihr vierzehntes oder siebzehntes ist, keine Ahnung, warum dieses plötzlich aus allen Richtungen empfohlen und besprochen wurde, weiß ich nicht, ob es aus dem bisherigen Oevre besonders hervorsticht, mag ich nicht zu beurteilen. Das erzeugte Echo jedenfalls hat genügt, dass ich es mir mal bewusster angehört habe und also drauf hängenblieb. Wer die ruhigeren Sonic-Youth-Sachen mag, wird das auch mögen. Ganz offenbar eine gut gealterte Band und die Platte selbst dürfte sich auch gut halten.
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Gregors Nr. 7: Isolée – Resort Island (Resort Island)
Zwölf Jahre nach seinem letzten Album „Well Spent Youth“ auf Pampa Records gibt’s endlich Nachschub von Rajko Müller alias Isolée und ich möchte mal vorsichtig behaupten: das vierte ist zugleich sein bestes Album. Das ist insofern erstaunlich, als dass er seine Kunst schon vor 25 Jahren zur Meisterschaft geführt hat. Wenn es nach seinen hohen Ansprüchen geht, besteht die große Herausforderung wahrscheinlich darin, sich nicht zu wiederholen, was mit wachsender Schaffenszeit einen beträchtlichen Raum einnehmen dürfte. Und überhaupt: Isolée wollte ja immer Musik für den Strand machen, aber nicht Teil der Party sein. Lässig, aber nicht belanglos. Optimistisch, aber nicht oberflächlich. Hellklar produziert und trotzdem eigenwillig. Das kann dann alles ganz schnell konstruiert klingen, tut es aber nicht. „Resort Island“ ist ein Album für Träumer und Isolée bleibt für mindestens weitere zwölf Jahre der Liebling des Undergrounds.
»Plätscher plus Treuepunkt. Schatz, ich liebe dich!« (Gregor; 16.05.2013). »Bonobo ist Spaghetti Bolognese in Sound. Kannst Du im Grunde immer wählen, gerade dann, wenn du dir keinen Kopf ums Auswählen machen willst, konstant lecker und nahrhaft.« (Roland; 25.10.2010). »Spätestens jetzt hat Simon Green einen Platz auf der Weltkarte sicher« (Gregor; 23.09.2006). Was vor 16, zwölf und neun Jahren galt, hat auch heute noch Bestand: Bonobo ist einer der besten Sauciers der Welt. Ihn nun aber aufs Plätschern zu reduzieren, wäre ungerecht, dazu pumpt der Sound an vielen Stellen einfach zu oft im Zentrum. »Fragments« ist ein sehr abwechslungsreiches Album geworden: Dancefloor, Fahrstuhl, Harfe, Saxophon und Geige – alles irgendwie zu finden. Dafür gab es Lob und Kritik, auf Pitchfork sogar niederschmetternde: »Bonobo’s latest work still carries some of the worst traits of his earlier records, leaning so deeply into relaxation that it loses urgency altogether«. Der Übergang vom Wachzustand in den Schlaf ist auch auf »Fragments« fließend. Entspanne ich noch oder schlafe ich schon? Für mich war es jedenfalls (auch in Ermangelung von Alternativen) für ein paar Wochen die perfekte Hintergrundmusik.
Rolands Nr. 1: Max Cooper – Unspoken Words (Mesh)
…und eine mögliche Alternative für Gregor hätte auch dies hier sein können. Am Ende treffen wir uns also doch in ähnlichen Gegenden, allem Gitarrengeraune zuvor zum Trotz. Max Coopers Album jedenfalls ist eine der seltenen Fälle von: beinahe schon zu voll, überreich. Gilt sowohl in der Tiefe, also dank der viele Layer bei den einzelnen Stücken, als auch in der Breite, auf die ganze Strecke. Irgendwie dabei auch organisch so selbstverständlich geformt, dass es sich fast unbemerkt und immer häufiger in meine Hörenwollenanlässe schmuggelte, und also ich erst relativ spät merkte, ach so, das ist das beste Dings aus/in 22.
Gregors Nr. 2: Fountaines D.C. – Skinty Fia (Partisan Records)
Ich bin großer Fan vom Musik-Journalismus alter Prägung, diese hingeschriebene Kennerschaft und Hintergründigkeit, die man von der gegenwärtigen Empfehlungsöffentlichkeit nicht voraussetzen darf. Wir wissen alle, dass es nicht gut gestellt ist um diese Zunft, der mit wenigen Ausnahmen der Sprung ins Netz misslang (wie auch, wenn alle in Facebook und mit Spotify rumdaddeln?). Kurzum: Was mir fehlt, ist ein Magazin, dass meine musikalischen Vorlieben jenseits der Gitarren lenkt. Es bleibt dieses Jahr also ROCKIG. Dem dritten Album der irischen Fountaines DC gelingt das seltene Kunststück, die beiden kongenialen Vorgänger noch ein ganz klein bisschen zu übertreffen. Dass »Skinty Fia« in Irland und England auf die Eins in den Albumcharts gegangen ist (in Deutschland immerhin Platz 5), liefert zwar keinen Anhaltspunkt für ihren anhaltenden akustischen Höhenflug (was sind Charts eigentlich?), darf aber als positive Errungenschaft gewertet werden. »Skinty Fia« ist trocken, düster, entschleunigt und für eine Strandparty kaum zu gebrauchen (ein zweites »Boys in the better Land« sucht man vergeblich). Neben kunstvollen Joy-Division-Momenten finden wir Cure-Gitarren und ja, mit den Arctic Monkeys teilen sie sich den Spint. Alles wirkt ein bisschen verliebt und verlassen. Schön, dass es das noch gibt!
Rolands Nr. 2: Black Country, New Road – Ants From Up There (Ninja Tune)
Die unvermeidliche Begleitgeschichte zum Album: Sänger/Songwriter Isaac Wood erklärt kurz vor Erscheinen des Dings seinen Austritt aus der Band, aus persönlichen Gründen, die psychische Gesundheit. Die Restband sagt die Tournee ab und erklärt, dass sie auch künftig die bisherigen gemeinsamen Songs nicht live spielen wird und also zu einer Neuerfindung sich wird zwingen müssen. (Weshalb es jetzt nur wenig Aufgezeichnetes gibt, z. B. dieser eine Mitschnitt, aus dem das untenstehende Video den Schlusssong zeigt). Mitten im steilen Aufwind also Full Stop, schon seit der vorigen EP war der Hype ordentlich am Flattern. Aber der kam tatsächlich auch aus der Musik: mit BCNR, behaupte ich jetzt mal, kommt eine gewisse Dringlichkeit zurück, auch wenn da unleugbar auch prätentiöses mitschwingen mag. Das Ergebnis ist wild und eklektisch (ich mag z. B. die Minimal-Anleihen), mit deutlichem Willen originell sein zu wollen, mir sagen die Lyrics sehr zu, mit Ihrer Mischung aus Profanem und Magischem, da stören mich dann auch Doppelsteggitarre und Saxofon weniger, als sie es in anderen Kontexten täten.